1. November 2006

Metamorphose eines Unikats


Winterreise


Winterreise: Leyla (Sibel Kekilli), Franz (Sepp Bierbichler)Hans Steinbichlers Film "Winterreise" ist fulminant, und das in vielerlei Hinsicht. Es sind nicht nur seine grandiosen, zumeist überaus professionellen Schauspieler, die diesen Film glänzen lassen, sondern auch und vor allen Dingen die lyrische Kraft mit der er Stimmungen, Bilder produziert, die zweierlei tun: Zum einen evozieren sie mit ihrer ästhetischen Brillanz ein wuchtiges Gefühl der Poesie, zum anderen schmerzen sie, weil sie die Hoffnungslosigkeit aufzeigen, in der sich die Mentalität der Handelnden decouvriert.


Wie in seinem ersten Langspiel- und Debütfilm "Hierankl" (2003), der bei Kritikern und Zuschauern viel berechtigtes Lob und Anerkennung erfuhr - daneben erhielt er den Förderpeis Deutscher Film auf den Filmfest München 2003 -, kooperierte der Filmemacher Hans Steinbichler auch in "Winterreise" wieder mit dem Schauspieler Sepp Bierbichler. Und ganz offensichtlich ähneln sich nicht nur beider Nachnamen, sondern auch deren Verständnis von Film.

Winterreise: FilmplakatIn "Winterreise" spielt Bierbichler den Kleinunternehmer Franz Brenninger. Brenninger, ein Kauz und Scheusal im besten und schlechtesten Sinne der Wörter, tyrannisiert seine Mitmenschen, hält sich für den Größten, und bezeichnet zuerst einmal jede und jeden frank und frei als "Arschloch". Zeternd, schimpfend, mit geballten Fäusten versucht er sein Unternehmen zu retten, das kurz vor dem Ruin steht. Von niemandem, auch nicht von seinen erwachsenen Kindern, lässt er sich in die Parade fahren. Er sagt seinem Sohn Xaver, dass er ein farbloser Spießer und Opportunist sei, ohne "Arsch in der Hose". Selbst seine Tochter Paula - wunderbar gespielt von Anna Schudt, die in den Münchner Kammerspielen eine Koryphäe der weiblichen Schauspielerinnengarde ist - bleibt nicht verschont. Sie muss sich von ihrem kratzbürstigen Vater sagen lassen, dass es schon beschämend sei, 16 Semester auf Kosten des Vaters zu studieren und nunmehr ohne Abschluss und einem Kind eine eher schmachvolle Existenz zu sein. Das alles in einem höchst unterhaltsamen und frivolen Boarisch, das den Nordlichtern bisweilen zu schaffen machen könnte.

Freundlich ist Brenninger nur zu wenigen: Da sind zum einen die Prostituierten, die er besucht, mit denen er aber eher seine Nöte bespricht, als zum Sex zu kommen. Und da ist seine Frau, die nicht von irgendeiner, sondern von Hanna Schygulla gespielt wird. Auch sie: großartig. Die Grande Dame, die schon allerlei mitgemacht hat unter dem herrschsüchtigen, ja kaltblütigen und genial innovativen Rainer Werner Fassbinder, dessen Platz in der deutschen Filmgeschichte dennoch, und vielleicht gerade deswegen unverrückbar bleibt, spielt die Frau von Brenninger, mit dem leisen Namen Martha. Und ebenso leise ihre Rolle. Sie erträgt die permanenten Ausrutscher ihre Mannes, sie liebt ihn, und in einer Mischung aus Lethargie und ein paar Gramm zuviel Altruismus vergibt sie ihrem Mann nahezu alles. Mit ihrer Ausstrahlung, ihrer ureigenen Existenz und ihrer Stimme muss aber Schygulla auch nicht viel sagen um zu überzeugen.

Und dann wäre da Leyla: Sie nimmt Brenninger als Dolmetscherin mit nach Kenia, wohin er reist, um Klärung in die dubiosen Geschäfte zu bringen, die er eingegangen ist. Leyla wird verkörpert von Sibel Kekilli, dem ehemaligen Pornostar, die spätestens seit ihrer Rolle in "Gegen die Wand" von Fatih Akin bekannt ist. Allerdings spielt sie ihre Rolle in "Winterreise" höchstens brav, manchmal erscheint sie etwas unbeholfen. Leyla verschafft sich durch unbedarfte Art Zugang zu Brenninger, zumindest dahingehend, dass er sie nicht wie alle anderen aufs Beste vergrault.

Winterreise: Franz (Sepp Bierbichler) in der kenianischen SavanneDort, in Kenia, macht Brenninger eine Art Metamorphose durch, indem er die menschliche Einbahnstraße, auf der er bislang mit vollem Karacho unaufhaltsam ins Ziellose steuerte, verlässt und allmählich zu dem, was man das "Selbst" des "Ich" nennt, findet. Hier erfährt der Zuschauer, weshalb der grobschlächtige Unternehmer sich immer wieder die lautstarke Musik, die er auf Kopfhörern hört, und zu der er sich wild bewegt, als Refugium wählt wenn er nicht mehr weiter weiß.

Steinbichler wählt wundersame Einstellungen, und das Gefühl der Weite, der Endlosigkeit, aber des ewigen Sinnierens überfällt einen bei den Totalaufnahmen der afrikanischen Wüstenlandschaft. Oder, wenn wir dem Brenninger auf seiner Entdeckungsreise durch Nairobi folgen, einem Prozess der Menschwerdung, gedreht mit der Handkamera, und beinahe dokumentarisch, die vitale, komplizierte, zum Teil undurchschaubare Szenerie in der hektischen Metropole. Nicht minder eindrucksvoll die puristische Einstellung, wenn Mutter und Sohn miteinander ein Gespräch führen, in der eine kalte, großflächige, weiße Mauer als Hintergrund dient, deren Weiß schmerzt. Denn es ist nicht ein Weiß der Unschuld, des Jungfräulichen, es ist das Weiß des absolut Leeren, in dem alles verschwindet, an dem alles abprallt. Statisch bleibt auch die Kamera und zeigt beide in der Halbtotalen, manchmal in einer Halbnahaufnahme wie sie vor dieser kalten Mauer sprechen, und die Statik der Kamera, in Verbindung mit der minimalen Ausstattung, und der unverbrüchlichen weißen Mauer symbolisieren die Unverrückbarkeit der Gegebenheiten im Leben der Charaktere. Immer wieder sehen wir Franz Brenninger, wie er am Panoramafenster steht, aber die Kamera ist auf größtmögliche Distanz ausgerichtet, er erscheint in diesen Totalaufnahmen nur unscharf. Er steht nackt vor dem Fenster, würde sich am liebsten seines momentanen Lebens entkleiden, um sich diesem dadurch zu entziehen.

Wenn man ihn aus dieser Ferne sieht, wird nur allzu deutlich wie weit weg auch seine Seele, sein Lebensengagement vom Jetzt ist. Erst in Afrika geht die Kamera an ihn heran, werden die Einstellungen heller, und das nicht nur weil dort die Sonne scheint, während es in Bayern mächtig winterlich ist. Von mächtiger Poesie, und mächtig viel Ambition zeugt diese Charakterstudie, die völlig unverzerrt den sich verändernden Status Quo einer zerrissenen Individualität zeigt. Eine Individualität, die man im deutschen Film nicht immer findet. "Winterreise" steht "Hierankl" in nichts nach.

 
Sven Weidner / Wertung: * * * * * (5 von 5)

Quelle der Fotos: X-Verleih


Filmdaten

Winterreise


Deutschland 2006
Regie: Hans Steinbichler;
Darsteller: Josef Bierbichler (Franz Brenninger), Hanna Schygulla (Franz Brenninger), Sibel Kekilli (Leyla), Philipp Hochmair (Xaver), Anna Schudt (Paula), Brigitte Hobmeier (Jacqueline), Johann von Bülow (Holger Mankewski), André Hennicke (Friedländer), Klaus Manchen (Botschafter) u.a.; Drehbuch: Hans Steinbichler, Martin Rauhaus; Produktion: Uli Aselmann, Robert Marciniak, d.i.e.film.gmbh; Kamera: Bella Halben; Musik: Antoni Lazarkiewicz; Länge: 99 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von X-Verleih; deutscher Kinostart: 23. November 2006




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Winterreise
<23.11.2006>  



Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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