Dezember 2000

Warum gehen fünf junge Mädchen freiwillig in den Tod?

The Virgin Suicides


The Virgin Suicides Gepflegte Rasenflächen, alter Baumbestand, freundliche Einfamilienhäuser: In dieser Atmosphäre geordneten Wohlstands wachsen Mitte der siebziger Jahre in einem Vorstadtviertel in Michigan/USA die fünf schönen blonden Töchter des Mathematiklehrers Mr. Lisbon heran; die jüngste ist dreizehn, die älteste siebzehn Jahre alt. Das Elternhaus ist katholisch-konservativ geprägt; die Mädchen werden nach strengen Regeln erzogen und haben nur wenig Freiheit. Abends sitzt die Familie beim Fernsehen und schaut sich Dokumentarfilme an; um zehn Uhr wird schlafen gegangen. Als die jüngste Schwester, ein ernstes und nachdenkliches Mädchen, sich das Leben nimmt, suchen Eltern, Nachbarn und Ärzte vergeblich nach einer Erklärung.


Nachdem der erste Schock überwunden ist, nehmen die übrigen Schwestern ihr gewohntes Leben wieder auf, wenngleich sie ein wenig stiller und verträumter wirken als zuvor. Sie werden von ihren Mitschülern und deren Eltern bewundert; man sagt ihnen eine glänzende Zukunft voraus. Eine Wende tritt ein, als sich Lux, die zweitjüngste, in Trip Fontaine, einen gutaussehenden, erfolggewohnten Mitschüler, verliebt. Von einem Schulfest, zu dem Trip sie einlädt und an dem auch die anderen Schwestern teilnehmen, kehrt sie erst am anderen Morgen zurück. Daraufhin dürfen die Schwestern das Haus nicht mehr verlassen; sogar der Schulbesuch wird ihnen verboten. Von der Außenwelt isoliert und in ihre Zimmer verbannt, schaffen sich die Mädchen ihre eigene Welt; sie träumen von schönen Kleidern, exotischen Reisen, führen in ihrer Phantasie ein freies und glückliches Leben. Aus dieser Traumwelt gibt es für sie schließlich keinen Weg mehr zurück; alle vier folgen der jüngsten Schwester nach.

Erzählt wird die Begebenheit aus der Rückschau von einem der vier Jungen aus der Nachbarschaft, die von den Schwestern fasziniert waren, sie beobachteten und Kontakt zu ihnen suchten und die - inzwischen längst erwachsen - noch immer mit der Erinnerung an die Lisbon-Schwestern und ihr Schicksal leben.

Der Film erzählt die Geschichte junger Menschen, die in einer erstarrten, von rigorosen Prinzipien und strengen Regeln beherrschten Gesellschaft aufwachsen. In Washington regiert Gerald R. Ford; das Land ist noch geprägt von der Law-and-Order-Politik seines Vorgängers Nixon und leidet unter den Folgen von Watergate; auch der Vietnam-Krieg liegt noch nicht weit zurück. Die amerikanische Gesellschaft erscheint krank wie die Ulmen vor dem Haus der Lisbons, und der üble Geruch, der von einem überdüngten See aufsteigt und die von einem reichen Nachbarn veranstaltete Party beeinträchtigt - die er sinnigerweise unter das Motto "Ersticken" stellt -, hat deutlich Symbolcharakter. Vertreter und zugleich auch Produkt dieser Gesellschaft sind die Eltern der Mädchen: der technik- und sportbegeisterte Vater, der seiner dominanten Frau nichts entgegenzusetzen hat und hinter dessen betont jovialem Auftreten sich Trauer und Hilflosigkeit verbergen, die engstirnige und selbstgerechte Mutter, die als die Hauptschuldige an der Tragödie ihrer Töchter erscheint, in ihrer bigotten Sittenstrenge jedoch selbst unerfüllt und verbittert ist. Erschreckend ist die Sprachlosigkeit, die in diesem Hause herrscht: die Eltern kommunizieren kaum miteinander, das Gespräch mit den Töchtern beschränkt sich auf höfliche Floskeln und gelegentliche tadelnde Bemerkungen. Demgegenüber bilden die Mädchen eine nach außen fast hermetisch abgeschlossene Gruppe: über das, was sie denken und fühlen, geschweige denn darüber, was sie letztendlich zu ihrem Entschluss bewegt hat, erfahren wir so gut wie nichts. War der Wunsch, zu sterben, bei allen gleich stark, oder haben sie sich gegenseitig beeinflusst? Und was hatte zuvor Trip zu seinem rätselhaften Verhalten veranlasst? Fragen, deren Beantwortung der Film dem Vorstellungsvermögen der Zuschauer überlässt.

Erstaunlich ist, welch geringen Widerstand die immerhin schon halberwachsenen Mädchen wie auch die - von jeher weniger starkem Druck ausgesetzten - Jungen der Erwachsenenwelt entgegensetzen: sie erscheinen durchweg fügsam und angepasst. Allein Lux wagt es, aus den rigiden Konventionen ihrer Umwelt auszubrechen, hat aber dann - angesichts des Scheiterns ihrer Liebe und der harschen Reaktion ihrer Eltern - zu weiteren Ausbruchversuchen in Richtung Leben nicht mehr die Kraft. - Deutliche Kritik übt der Film am Verhalten der lokalen Öffentlichkeit und der Medien: sogleich nach Cecilias Tod wird an der Schule eine wenig sensible Kampagne zum Thema Selbstmord gestartet, und der lokale Fernsehsender bereitet die telegene Geschichte quotenträchtig auf.

Der Film wirkt streckenweise nahezu heiter und unbeschwert, wenngleich eine gewisse Ambiguität stets zu spüren ist. Oft scheinen Traumbilder auf, wie überhaupt das Element des Traums sich durch den gesamten Film zieht. Dem stehen dunkle Szenen von hoher Intensität und starker Aussagekraft gegenüber: Der eiserne Zaun vor dem Hause der Lisbons, der angeblich den Tod der jüngsten Schwester verursacht hat, wird unter Beteiligung der gesamten Nachbarschaft in einer Art Gewaltakt weggeräumt, wenngleich alle den wahren Sachverhalt kennen; erschütternd ist auch die Szene, in der Lux nach ihrer Liebesnacht mit Trip im Morgengrauen inmitten eines noch von bleichem Scheinwerferlicht beleuchteten Sportfeldes allein erwacht, ihre Schuhe anzieht und sich auf den Weg nach Hause macht, klein, verlassen und schutzlos. Ein wichtiges Element in diesem einfühlsamen und intelligenten Erstlingswerk von Sofia Coppola ist die Musik: die Songs von "Air", die das Geschehen kommentierend begleiten, sind qualitätvoll und nicht nur für ein jugendliches Publikum hörenswert. Hervorragend Kathleen Turner in der Rolle der Mutter; auch die schauspielerische Leistung von James Woods als Vater ist beachtlich.

 
Hildegard Wehrmann / Wertung: * * * * (4 von 5)

Quelle des Fotos:
offizielle Seite zum Film


Filmdaten

The Virgin Suicides
(The Virgin Suicides)

USA 1999;
deutscher TV-Titel: Das Geheimnis ihres Todes
Regie: Sofia Coppola; Drehbuch: Sofia Coppola nach dem Roman "The Virgin Suicides" ("Die Selbstmord-Schwestern") von Jeffrey Eugenides;
Ausführende Produzenten: Fred Fuchs, Willi Bär; Co-Produzenten: Fred Roos, Gary Marcus; Produzenten: Francis Ford Coppola, Julie Costanzo, Dan Halsted, Chris Hanley; Kamera: Edward Lachman; Schnitt: James Lyons, Melissa Kent; Musik: Brian Reitzell; Musik komponiert von "Air": Nicolas Godin, Jean-Benoit Dunckel; Casting: Linda Philipps-Palo, Robert McGee, John Buchan;
Darsteller: James Woods (Mr. Lisbon), Kathleen Turner (Mrs. Lisbon), Kirsten Dunst (Lux Lisbon), Josh Hartnett (Trip Fontaine), Hanna Hall (Cecilia Lisbon), Chelse Swain (Bonnie Lisbon), A. J. Cook (Mary Lisbon), Leslie Hayman (Therese Lisbon), Danny DeVito (Dr. Horniker), Michael Paré (Trip Fontaine im Jahr 1997), Jonathan Tucker (Tim Weiner), Anthony De Simone (Chase Buell), Noah Shebib (Parkie Denton), Robert Schwartzman (Paul Baldino), Scott Glenn (Pater Moody);

Länge: 97 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 16. November 2000; ein Film im Verleih von TiMe Filmverleih




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von Michael Dlugosch
Wertung: 3 von 5  



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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