03.05.2015
24 Stunden zielloser Streifzug durch ein zynisches, verbittertes Berlin

Oh Boy


Jan Ole Gersters Regiedebüt schlug Ende 2012 in den deutschen Filmbetrieb ein wie eine Bombe: Gerster zeigte, dass auch in Deutschland kleine, interessante Filme möglich sind. Einen Tag und die folgende Nacht hindurch streift die Hauptfigur von "Oh Boy", Niko (Tom Schilling) durch Berlin und trifft die unterschiedlichsten Menschen. Daraus entwickeln sich kleine Geschichten. Schade ist, dass nicht jede der vielen Episoden funktioniert. Dennoch unterscheidet sich der Schwarz-Weiß-Film wohltuend von den sonstigen Produktionen des deutschen Films wie den Til-Schweiger- und Matthias-Schweighöfer-Geschichten. Zu recht räumte "Oh Boy" beim Deutschen Filmpreis sämtliche Auszeichnungen ab. Der Film hätte es verdient gehabt, von der Deutschen Filmakademie für den Academy Award als Bester fremdsprachiger Film vorgeschlagen zu werden – der letztlich nach Los Angeles geschickte Film "Zwei Leben" der Regisseure Georg Maas und Judith Kaufmann scheiterte noch vor der Endauswahl.

Was hat Niko in zwei Jahren in Berlin getan, fragt der Vater (Ulrich Noethen). Nachgedacht, antwortet der junge Mann. Der Vater stellt den Sohn zur Rede, weil dieser den Abbruch des Jura-Studiums verschwiegen, aber weiterhin Geld vom Vater kassiert hat. Auf die Kohle müsse Niko fortan verzichten, erklärt der reiche, durch seine Karriere selbstbewusste Vater, aber Niko ist das egal. Wie ihm insgesamt vieles egal ist. Passivität scheint Niko angeboren zu sein. Nur eines ist dem Endzwanziger an dem Tag, an dem ihn der Film begleitet, nicht egal: Er hätte gerne einen Kaffee. Dieser Wunsch durchzieht "Oh Boy" wie ein roter Faden. Bis zum Ende scheitert Nikos Versuch, an das munter machende Getränk zu kommen, immer wieder.

In dem Film wird Berlin von einer unangenehmen Seite gezeigt: Die Menschen, auf die Niko, von seiner Freundin (Katharina Schüttler) gerade getrennt, im Verlauf des Films trifft, sind zynisch, melancholisch oder verbittert. Von dieser Haltung geprägt sind die Begegnungen mit Freunden und Zufallsbekanntschaften. Eine frühere Schulfreundin, Julika (Friederike Kempter), schafft es nicht, Niko aus seiner Lethargie und Gleichgültigkeit zu befreien. Julika ist jetzt Schauspielerin. Nikos Besuch einer experimentellen Tanzveranstaltung, bei der Julika mitwirkt, ist eine große Enttäuschung und endet mit Missverständnissen. Der alte Mann (Michael Gwisdek), den Niko zuletzt im Film zufällig in einer Kneipe kennenlernt, stirbt. Für den Mann endet damit ein langes, ereignisreiches, vielleicht nicht erfülltes Leben, aus dem er vorher kurz, aber intensiv erzählt. Dass der Mann stirbt, ist ein Kontrapunkt, der Tod ist hier als Bild für Nikos scheiternden Lebensentwurf zu verstehen, vom Autorenfilmer Gerster zynisch formuliert als Perspektive in der Perspektivlosigkeit.

In Jan Ole Gersters Film finden sich einige Nouvelle-Vague-Anklänge, auch tragikomische Elemente im Stile Woody Allens wieder. Von dem New Yorker Regisseur wurde auch die Neigung zu ständig anklingender älterer Musik wie Jazz übernommen. Gerster, ein Wegbegleiter des Regisseurs Wolfgang Becker, war bei der Postproduktion von dessen Film "Good Bye, Lenin!" beteiligt und hatte als Schauspieler in "Ein Freund von mir" mitgewirkt. Er vertraute seinem Hauptdarsteller eine Rolle an, mit der der grandiose, weil zurückhaltend agierende Tom Schilling immer verbunden und identifiziert werden wird.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

 

 
Filmdaten 
 
Oh Boy  
 
Titel für den englischsprachigen Markt: A Coffee in Berlin

Deutschland 2012
Regie & Drehbuch: Jan Ole Gerster;
Darsteller: Tom Schilling (Niko Fischer), Marc Hosemann (Matze), Friederike Kempter (Julika Hoffmann), Justus von Dohnányi (Karl Speckenbach), Michael Gwisdek (Friedrich), Katharina Schüttler (Elli), Arnd Klawitter (Phillip Rauch), Martin Brambach (Jörg), Andreas Schröders (Psychologe), Ulrich Noethen (Walter Fischer), Frederick Lau (Ronny) u.a.;
Produktion: Schiwago Film GmbH in Koproduktion mit Chromosom Filmproduktion, HR – Hessischer Rundfunk, ARTE; Produzenten: Marcos Kantis, Alexander Wadouh; Kamera: Philipp Kirsamer; Musik: Cherilyn McNeil, die Jazz-Band The Major Minors und mit einem Song von Konstantin Gropper ("Get Well Soon"); Schnitt: Anja Siemens;

Länge: 85,07 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; schwarz-weiß; ein Film im Verleih der X Verleih AG; deutscher Kinostart: 1. November 2012



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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