20.08.2010
Stürme im Obstgarten

Women Without Men


Women Without Men: Pegah Ferydoni Der Film "Women Without Men" entstand aus einem mehrteiligen Video-Projekt mehrerer Frauenfiguren ("Mahdokht" / 2004, "Zarin" / 2005, "Munis" / 2008, "Faezeh" / 2008, "Farokh" / 2008), das an den Roman "Women Without Men" (1989) von Sharnoush Parsipour angelehnt ist. In den unterschiedlichen Produktionen erkennt man jeweils den "magischen Realismus", wie ihn die Regisseurin Shirin Neshat nennt und nun auch in ihrem darauf aufbauenden Film "Women Without Men" verwendet.

Iran im Sommer 1953, ein für die Zukunft des Landes entscheidender Abschnitt, dessen Auswirkungen bis heute nachwirken und exemplarisch an vier Frauenfiguren dargestellt wird.
Der Film beginnt mit einer langen Einstellung einer Frau, die in einen Akt der Befreiung und der Ohnmacht zugleich mündet. Es ist Munis, eine von vier Frauen, die mit ihrem Lebenshunger für den Erzählstrang der Geschichte sorgen. Sie wird politische Aktivistin, nachdem sie vor ihrem Bruder und seinen religiösen Wertvorstellungen aus dem Haus flüchtet. Im Radio verfolgte sie zuvor die aufbrechenden Unruhen im Land - durch diese erhält der Zuschauer auch gleichzeitig konkrete Einblicke zur aktuellen Lage. Der erste frei gewählte Präsident Dr. Mossadegh war im Ausland in Ungnade gefallen, da er die Ölförderung 1951 verstaatlichte, und sich auch durch die frühere Kolonialmacht Großbritannien nicht weiter bevormunden lassen wollte. Die Folge waren mehrere Putschversuche des Auslands (Operation "Ajax", die auch die Unterstützung der USA fand), um den westlich gewandten Schah als Nachfolger wieder ins Amt zu bringen. Auf den Straßen Teherans toben derweil immer größere Kämpfe der Regierungstruppen mit den aufrührerischen Studenten, die das Volk weiter auf die Seite von Mossadegh treiben. Dadurch verstärkt sich der Druck auf die intellektuellen Anführer durch das Regime, und die Geheimpolizei sorgt für ein Klima des Misstrauens in der Bevölkerung.

Die kunstsinnige Fakhri (Arita Shahrzad) trifft in dieser Phase auf ihre frühere Liebe, was zu Spannungen in ihrer eh sehr tristen Ehe führt. Umso stärker zieht es sie dadurch wieder hinein in das pralle Künstlerleben des Untergrunds. Sie ist nicht nur die älteste, sondern durch die Heirat auch privilegierteste Figur im Film. Ihr gelingt der Ausbruch aus der Ehe und sie leistet sich den Kauf eines alten Obstgartens vor der Stadt, den sie wohl schon in Kindertagen entdeckte und hinter seinen hohen Mauern schon damals Schutz fand. Dieser mystische Ort wird auch zu einer Zuflucht von Munis, die ihre Freundin Faezeh (Pegah Ferydoni) mitnimmt, obwohl (oder weil) diese noch von einer Ehe mit Munis' tyrannischem Bruder träumt.

Women Without Men: Filmplakat Eine ähnliche Opferrolle hat auch zunächst die junge Prostituierte Zarin (Orsolya Tóth). Sie flüchtet aus dem Milieu nach dem erschreckenden Moment, als sie einem Freier ausnahmsweise den Blick zuwenden will, aber dann feststellt, dass sie keine Männer mehr ansehen kann, nicht mal mehr ihre Gesichter erkennt. Zarin gehört eine an den Nerven zehrende Szene, in der sie nach dem Gang aus dem Bordell in ein Badehaus geht und sich die Haut des ganzen Körpers blutig scheuert. Auch sie wird in den Garten aufgenommen und findet dort heilenden Trost. Die Bäume scheinen aber bereits den Sturm aus den Städten zu spüren. Physische Gewalt spielt in diesem Film zwar eine Rolle, aber sie wird nicht explizit gezeigt. Es sind überwiegend feminine Bilder (wie die naturesken Metaphern, Durchbrüche etc.), und diese mystischen Stimmungen prägen den Film. Nur während der gezeigten Unruhen auf den Straßen Teherans werden diese farbloser und grobkörniger, fast schwarz-weiß und wirken dadurch dokumentarischer, bildgewaltiger. Kameramann Martin Gschlacht ist auch einer der Produzenten des Films. Die Romanvorlage bot noch surrealistischere Bilder, aber Regisseurin Neshat ließ Teile des Romans für die Verfilmung fort, so verzichtete sie beispielsweise auf die fünfte Frauenfigur, die sich in einen Baum verwandelte, ganz. Sie politisierte dafür die Figur der Munis stärker, und damit den Film, lange vor den aktuellen Ereignissen im Iran, die während der Vorstellung bei den Filmfestspielen in Venedig 2009 (wo der Film den Silbernen Löwen für die Regie gewann) erst eskalierten. Wenig überrascht, dass der Film nicht im Iran gezeigt werden darf, schon wegen der Nacktszenen. Gedreht wurde auch nicht in Teheran, sondern im marokkanischen Casablanca.

Schon die Romanvorlage von Sharnoush Parsipour war ein Affront für die Fundamentalisten im Lande, auch wegen der teils offenen Erotik und trotz oft hinter surrealistischen Motiven versteckten Botschaften, ein heimlicher Bestseller vom Bücherstapel unterm Ladentisch. Die Regisseurin besuchte Parsipour während der Vorbereitung zu dem Film in ihrem Exil in Kalifornien. Daraus entstand eine besondere Zusammenarbeit: Die Autorin spielt im Film die Hausdame in dem Bordell, in dem Zarin arbeitet.

Women Without Men Natürlich geht der Film nicht nur auf die politischen Hintergründe ein, die als Ursprung zur Radikalisierung, Abkehr und Misstrauen gegenüber politischen Einflüssen aus dem Westen bis zur islamischen Revolution 1979 hinweisen, sondern auch auf die jüngeren Ereignisse der "grünen Revolution" und deren Versuche der Niederschlagung. Am Ende widmet Shirin Neshat den Film auch deren geistigen Führern und Kämpfern.  

Jürgen Grötzinger / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Filmwelt Verleihagentur

 
Filmdaten 
 
Women Without Men (Zanan-e bedun-e mardan) 
 
Deutschland / Österreich / Frankreich 2009
Regie & Drehbuch: Shirin Neshat, Shoja Azari;
Darsteller: Pegah Ferydoni ("Ayla"; Faezeh), Arita Shahrzad (Farrokhlagha), Shabnam Toloui (Munis), Orsolya Tóth (Zarin), Mehdi Moinzadeh ("Ayla"; Sarhang) u.a.; Produktion: Philippe Bober, Martin Gschlacht, Barbara Häbe (Arte), Susanne Marian, Heinrich Mis (ORF), Andreas Schreitmüller (Arte), Holger Stern (ZDF), Manfred Zurhorst (ZDF); Associate Producer: Shoja Azari, Oleg Kokhan, Joerg E. Schweizer; Ausführende Produzenten: Jerome de Noirmont, Barbara Gladstone; Kamera: Martin Gschlacht; Musik: Ryûichi Sakamoto; Länge: 99 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von NFP / Filmwelt; deutscher Kinostart: 1. Juli 2010



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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