August 2001

Auf der Suche nach dem Feuer Andalusiens

Vengo

Vengo Der französisch-algerische Regisseur Tony Gatlif ("Gadjo Dilo", 1997) hat mit "Vengo" einen Film inszeniert, in dem die Musik des Flamenco den Mittelpunkt bildet. So drückt der Film die Gefühle des Menschen akustisch aus - und auch visuell. Die Hauptfigur in "Vengo", der andalusische Roma Caco (der bekannte spanische Flamenco-Tänzer Antonio Canales), trauert um seine verstorbene Tochter. Seinen Kummer ertränkt er in den Festen seiner Familie, den Frauen - und im Flamenco. Gleichzeitig sehnt sich die Familie Caravaca nach Blutrache an Cacos Clan: Cacos Bruder Mario tötete einst ein Familienmitglied der Caravaca und flüchtete nach Marokko. Nun sieht Caco seinen behinderten Neffen Diego (Orestes Villasan Rodriguez) unmittelbar bedroht.

Den Flamenco müsse man "von innen heraus" fühlen, ihn von innen heraus leben, so Regisseur Tony Gatlif. Er selber sah sich einst zwar als "Liebhaber des Flamenco, betrachtete ihn aber nur als Zuschauer", bevor er in seinen Filmen "Gadjo Dilo" und "Vengo" auf die Suche nach den Wurzeln seiner Vorfahren ging. Das Lebensgefühl andalusischer Zigeuner, von denen er abstammt, ist das Thema beider Filme, der emotionale Rausch der Roma, ausgedrückt in ihren alkoholdurchtränkten Festen, ihrer unumstößlichen Liebe zur eigenen Familie, auch in den nie verborgenen gehaltenen Gefühlen wie Eifersucht und Blutrache, und vor allem: ausgedrückt in der Musik des Flamenco.

In "Gadjo Dilo" war ein französischer Protagonist, selber der Abstammung nach Zigeuner, aber eben nur der Abstammung nach, von einem alten Roma freundlich aufgenommen worden, um dann als eigentlich Fremder das Leben im Zigeunerlager mitzuerleben und dann mitzuleben, immer im Rhythmus des Flamenco.
In "Vengo" arrangiert Gatlif die Annäherung des Zuschauers an die Roma anders: Den von außen kommenden Franzosen, symbolisch für den Franko-Algerier Gatlif stehend, gibt es in "Vengo" nicht mehr, der Zuschauer ist jetzt von der ersten Minute an in den Mikrokosmos der Roma integriert und - ebenso von der ersten Minute an - fühlt er den Flamenco.

Vengo Welch ein Auftakt für einen Film! Schon in den ersten zehn Minuten wird der Flamenco am Stück temperamentvoll zelebriert. Es ist ein Familienfest, das des Clans von Caco, eines Mittvierzigers, der sich vom Tanz besonders berauschen lässt. Dabei ertränkt er seinen Kummer - sein Töchterchen ist irgendwann gestorben, wie lange das her ist und wer die Mutter ist, erfährt man nicht, aber er, der unrasiert ist, ein goldenes Kreuz über seinem dichten Brusthaar hängen hat und daher eigentlich höchst zwielichtig wirkt, ist von ehrlicher Trauer umgeben, er wäre ein liebevoller Vater gewesen, kein Zweifel. Seine ganze verwandtschaftliche Liebe gilt jetzt seinem Neffen Diego. Diego, noch keine 18, wird von Frauen nie umschwärmt werden: Diego ist behindert. Das macht aber auch nichts, Caco spendiert als Ersatz den ersten Aufenthalt Diegos bei einer Prostituierten des Dorfes, die Caco gut kennt. Manch ein Problem ist für die zusammenhaltenden Roma keines, solch eins wie die Behinderung Diegos und ihre eigentlich damit verbundenen sozialen Folgen weiß Caco sofort zu lösen, unter Roma hilft man sich. Und: Roma sind nicht intolerant. Nur ein Problem bleibt ein Problem unter ihnen: Wenn die Gefühle anderer Roma verletzt wurden, dann lässt sich das nicht bei Alkohol, Frauen und Festen aus der Welt schaffen. Es ist die nach Gatlifs Auffassung zu Zigeunern wie Eifersucht und Flamenco dazugehörende Blutrache, die, einmal verlangt, auch bedingungslos umgesetzt werden muss, die in "Vengo" von da an den Ton angibt. Da Cacos Bruder Mario, Diegos Vater, nach dem Mord oder Totschlag an einem Roma aus dem rivalisierenden Clan der Caravaca geflohen ist, ist Diego in höchster Gefahr. Das weiß Caco, und er weiß: Wenn nicht Diego, so wird ein anderer sterben. Nähere Hintergründe der einstigen Tat Marios erfährt der Zuschauer nicht, nie wird zu viel in "Vengo" ausgesprochen, für Erklärungen ist der Flamenco mit seinen stimmungswiedergebenden Einlagen da, die Musik nimmt im Verlauf des Films bedrückende Züge an. "Vengo" lebt von den mimisch dargebrachten Emotionen gerade dann, wenn Caco sich dem Rausch des Tanzes hingibt, sich in die ihn ekstatisch einnehmende Zigeuner-Folklore flüchtet, um den Schmerz zu vergessen. Die Mimik sprechen zu lassen ist ein guter Einfall in "Vengo", der ansonsten leider ein eher kleiner, da zu kurz wirkender und sich zu sehr auf die Figur des Caco konzentrierender Film ist.

Vengo In "Vengo" verzichtete Tony Gatlif auf professionelle Schauspieler. Dafür hat er als Hauptdarsteller Antonio Canales engagiert, einen bekannten spanischen Solotänzer, der so ersichtlich den Flamenco im Blut hat, dass er Gefühle wie Lebensfreude, Trauer, Schmerz, Angst um geliebte Familienmitglieder, eben das Feuer eines andalusischen Zigeuners, mit einer Intensität darstellen kann, die ihresgleichen sucht.

"'Vengo' ist ein Schrei, ein Gesang, ein Loblied auf das Leben, die Liebe, die Trauer und den Preis des Blutes. Eine Hymne auf den mediterranen Süden", so Tony Gatlif über seinen Film, mit dem er das Lebensgefühl der Roma, seiner Vorfahren, gefunden haben will - und der Film lässt keinen Zweifel daran. "Vengo" erhielt den "Cesar" für die beste Film-Musik.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5)

Quelle der Fotos: X-Verleih


Filmdaten

Vengo
(Vengo)

Frankreich / Spanien 2000
Darsteller: Antonio Canales (Caco), Orestes Villasan Rodriguez (Diego), Antonio Perez Dechent (Primo Alejandro), Bobote (Primo Antonio), Juan-Luis Corrientes (Primo Tres); Regie: Tony Gatlif ("Gadjo Dilo", 1997); Drehbuch: Tony Gatlif, David Trueba; Kamera: Thierry Pouget; Schnitt: Pauline Dairou; Ton: Regis Leroux; Ausstattung: Denis Mercier, Brigitte Bassart; Produktionsleitung: Nathalie Duran; Originalmusik: Tomatito, Sheikh Al Tuni, Gritos de Guerra, Tony Gatlif, La Caita; Länge: 89 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; Verleih: X-Verleih; deutscher Kinostart: 12. Juli 2001



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Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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