30.11.2001

Die Routine der Liebe


Unter dem Sand (2000)


Ein Film über den Tod und den Umgang mit der Trauer. Ozon greift in "Unter dem Sand" auf ein Bild zurück, das ihn seit seiner Jugend beschäftigt: Das Bild einer Frau, die, allein am Strand, auf das Meer blickt und auf ihren Mann wartet, der ertrunken ist.


Unter dem Sand"Hatte Ihr Mann berufliche oder persönliche Gründe für sein Verschwinden?" "Nein." "Oder für Selbstmord?" Schweigen. "Schien er deprimiert oder lebensmüde?" "Nein", wehrt Marie Drillon (Charlotte Rampling) diesmal energisch ab. Auf ihren Mann Jean (Bruno Cremer), mit dem sie seit fast 25 Jahren verheiratet ist, scheint dies alles nicht zuzutreffen. Und dennoch: Von einem Badeausflug im französischen Küstenort Lit-et-Mixte, in dem das in Paris lebende Paar seit Jahren seinen Urlaub verbringt, ist er nicht zurückgekehrt. Da die Polizei keine Leiche findet, verdrängt sie die Vorstellung seines Todes, kann und will nicht akzeptieren, dass er für immer aus ihrem Leben verschwunden sein soll. So baut sie eine Scheinwelt auf, in der Jean weiterhin an ihrer Seite lebt, mit ihr spricht und ihren Alltag teilt. Auch, wenn die Beweise für seinen Tod immer mehr zur tragischen Gewissheit werden, hält sie an ihrer Imagination fest, verschließt sich den Freunden, allen voran dem um sie werbenden Vincent (Jacques Nolot), die sie zu einem Neuanfang drängen wollen.

Hat Jean seine Frau aus Langeweile verlassen, wurde er ein Opfer der starken Strömung, oder trieben ihn seine Depressionen, an denen er - von seiner Frau unbemerkt - litt, in den Selbstmord? Ozon versucht nicht, ein Psychogramm des Verschwundenen zu erstellen, somit bleiben diese Fragen unbeantwortet. Zwar mag ein langer Blick auf ein wimmelndes Ameisennest am Vorabend seines mutmaßlichen Todes ihm die Gewissheit seines nutzlosen, ewiggleichen Arbeitslebens vor Augen geführt haben, der Suizid folglich noch die wahrscheinlichste Deutung sein, doch im Blickpunkt steht einzig Marie und ihre Realitätsverweigerung. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen, feste Rituale bestimmten das Leben des ungleichen Paares. Er, der füllige, Essen und Trinken liebende Franzose, sie, die körperbewusste Engländerin. Oft zeigt die Kamera sie, wie sie vor dem Spiegel die Spuren des Alters zu vertuschen versucht oder sie schwenkt über ihren jugendlichen, mit täglichem Training fit gehaltenen Körper. An die Stelle der sicherlich einmal vorhandenen Liebe war Gewöhnung getreten, so vermisst sie weniger die Person ihres Mannes, als den routinierten Tagesablauf, auf den man sich im Laufe der Jahre eingestellt hatte. Bei ihren Intimitäten mit Vincent, mit dem sie - da Jean für sie schließlich noch lebt - ihren Mann betrügt, wird deutlich, dass sie ihn lediglich an seine Stelle setzt: Die allabendliche Frage nach dem gestellten Wecker, das Schmieren des Frühstücksbrots - es sind dieselben Automatismen, die ihr Leben vorher bestimmten. Ein Hauch von Wirklichkeit dringt in ihr Bewusstsein, als sie verwundert feststellt, dass Vincent beim Geschlechtsakt um ein vielfaches leichter ist als ihr Mann. Immer, wenn das Außen in ihre Welt einzudringen droht, verschwindet der eingebildete Gatte - etwa bei einem Anruf der Polizei, dass nun doch eine Leiche gefunden worden sei, auf die die Beschreibung zutreffe -, doch sobald sie mit ihrer verzerrten Logik eine Erklärung gefunden zu haben glaubt, stellt sich das vertraute Wahnbild wieder ein.

In einer Vorlesung analysiert die Dozentin für englische Literatur treffend ihre eigene Situation, jedoch ohne dies auf sich zu beziehen: Virginia Woolfs Roman "Waves", der die Geist-unabhängige Automatisierung des Da-Seins thematisiert, gibt exakt ihre Gefühlslage wieder. In der Romantheorie der Schriftstellerin, die den Freitod durch Ertrinken wählte, deutet sich auch Ozons künstlerisches Selbstverständnis an, da Woolf Realität nur im Bewusstsein einer Romanfigur gespiegelt sieht. Folgerichtig nimmt der Zuschauer die Welt nur durch die Augen der Protagonistin wahr, sieht, wie sie, den Toten. Die filmische Umsetzung eines Trugbilds stellt den Regisseur häufig vor Probleme, doch die hier gewählte Variante ist die mit Abstand unglücklichste und gehört zu den Schwächen des Films.
Durch sensiblere Andeutung verlöre das Drama an - im wahrsten Sinne des Wortes - Offensichtlichkeit. Die Figur der Marie wird dem Zuschauer dadurch, was durchaus gewollt sein kann, zu vertraut, die Brisanz ihrer Situation kommt nicht recht zur Geltung. Die Diskrepanz des tragischen Endes etwa, das zugleich ein persönliches Happy-End für sie darstellt, wäre noch deutlicher. Ebenfalls eine Konzession an die Sicht der Hauptfigur führt dazu, dass die übrigen Schauspieler blass bleiben, bleiben müssen, doch auch das Spiel Ramplings weist Licht und Schatten auf: Überzeugend die Szenen, in denen sie sich in ihrer Welt befindet und diese gegen die Umwelt zu verteidigen sucht - am eindruckvollsten im Psychoduell mit der Schwiegermutter, bei dem beide Frauen die Ereignisse aus ihrem Verständnis deuten -, doch sobald sie Schwäche, Unsicherheit zeigen muss, wirkt ihr Schauspiel oftmals überzogen, aber wenig überzeugend.

Ozon, dem es noch vor Jahresfrist mit seiner Fassbinder-Adaption "Tropfen auf heiße Steine" gelungen war, die Abgründe der menschlichen Psyche zu ergründen, gelingt es diesmal nicht vollends, ein glaubhaftes Bild einer gegen die Verzweiflung kämpfenden Frau zu vermitteln.

 
Stefan Strucken / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Verleih


Filmdaten

Unter dem Sand (2000)
(Sous Le Sable)

Frankreich 2000;
Regie: François Ozon;
Darsteller: Charlotte Rampling (Marie Drillon), Bruno Cremer (Jean Drillon), Jacques Nolot (Vincent), Alexandra Stewart (Amanda), Pierre Vercier (Gérard), Andrée Tainsy (Suzanne Drillon) u.a.; Drehbuch: François Ozon, Emmanuelle Bernheim, Marcia Romano, Marina de Van; Produktion: Fidélité Productions; Kamera: Antoine Héberlé, Jeanne Lapoirie; Musik: Philippe Rombi;

Länge: 96 Minuten; deutscher Kinostart: 08.11.2001




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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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