09.02.2015
Berlinale-Wettbewerbsfilm

Der Perlmuttknopf


"Es ist ein zeitloser Ort. Ein Archipel des Regens..." Schönheit und Tragik jener Wasserläufe Patagoniens ergründen die elegischen Bilder von Patricio Guzmáns Dokumentation. Die Sterne scheinen eine seltsame Kraft auszuüben, auf die Elemente, das Schicksal und auf den chilenischen Regisseur. Sein Auge und das der Kamera richten sich immer wieder zum Firmament, als suchten sie dort nach einer Erklärung für die Irrwege der Geschichte.

The Pearl Button Der Titel spricht von den Perlmuttknöpfen, die vor Chiles Küste verstreut liegen. Ihr glänzendes Material stammt von der Schale der Mollusken auf dem Grund des Ozeans, der die größte Grenze des Landes ausmacht. Sie sind zurückgekehrt an den Ort ihres Ursprungs. Die Menschen, deren Körper im Meer versenkt wurden, warten noch darauf zurückzukehren. "Die Toten müssen zurückgegeben werden, damit die Lebenden weiterleben können", sagt einer der Überlebenden der Pinochet-Diktatur. Solange ihre Ahnen und Verwandten nicht geborgen sind, können sie nicht um sie trauern. Die Wunde bleibt offen, der Schmerz kann nie abklingen. Auf den Genozid der spanischen Siedler an den Ureinwohnern, von deren Letzten Guzmán die wenigen erinnerten Worte einer untergehenden Sprache erfragt, folgten die Morde des Terror-Regimes. Mit den psychischen Versehrungen dieser Zeit beschäftigte der Filmemacher sich bereits in seiner ebenso enigmatischen Dokumentation "Nostalgia de la Luz". Gemeinsam bilden beide ein Diptychon. Ihre kontrastierenden Aufnahmen von Sand, Hitze und Licht sowie Wasser, Kühle und Finsternis stehen als Gegensätze zueinander und ergänzen sich zugleich. Während in seinem letzten Werk Hinterbliebene im Staub der Atacamawüste in über 3.000 Metern Höhe nach den Gebeinen ihrer entführten und ermordeten Verwandten scharren, führt die Suche nach den Toten nun zu den Wasserstraßen des Archipels.

The Pearl Button Verstreut im Labyrinth aus Fjorden und Felsen liegen die Körper, die bisweilen auf seltsame Weise aufbegehren gegen ihre Mörder. "Sie hofften, die See würde das Geheimnis bewahren." Aber die Natur verweigert die Komplizenschaft. Einige der versenkten Leiber aus den Folterkammern und Todeslagern werden angeschwemmt: die Augen weit aufgerissen, der lebloser Blick eine stumme Anklage. Das titelgebende Kleinod wird auf mehreren historischen Ebenen zum Symbol für Auslöschung: von Menschen, ihrer Sprache, ihrer Kultur. "Amerikas Ureinwohner glauben, alles lebe", erklärt Guzmán, "Ein Stein hat eine Seele." Die Siedler sahen in diesen Menschen Monster und ihre Grausamkeit gegen sie wuchs selbst ins Monströse. Die Berichte der Gräuel begleiten Bilder der szenischen Schönheit. Das Leid scheint eingeschrieben in ein Land, das nicht vergisst. Nur die einzelnen der rund 20 überlebenden Ureinwohner erinnern sich klar an die alte Zeit. Eine von ihnen ist die 73-jährige Gabriela Paterito. Als Mädchen lernte sie Tauchen und Rudern und machte sich in einem Kanu auf die Reise von Punta Arenas im äußersten Süden des Landes zum Golf von Penas. Bis zu ihrer Ankunft war sie zur Erwachsenen geworden. Der Beiname der Bucht bedeutet "Kummer" und gewinnt wie die Natur- und Zivilisationsrelikte eine faszinierende Metaphrasie.

Bilder und Worte fließen wie das Wasser ineinander. Der cineastische Strudel durchbricht die Grenzen von Genredefinitionen wie Dokumentation oder Rekonstruktion, ohne Schlusspunkt wie die Perlmutter. Die Perle in ihrer Schale entsteht durch eine Verletzung, die so gemildert wird. Diese Schönheit, dem Schmerz entsprungen und dennoch Heilungszeichen ist perfektes Sinnbild für die dokumentarische Trauerarbeit. Wie es einmal darin heißt: "Diese Geschichte sollte viel öfter erzählt werden."  

Lida Bach / Wertung: * * * * * (5 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Hugues Namur (über berlinale.de)

 
Filmdaten 
 
Der Perlmuttknopf (The Pearl Button / El Botón de Nácar) 
 
Frankreich / Chile / Spanien 2015
Regie & Drehbuch: Patricio Guzmán;
Produktion: Atacama Productions; Produzentin: Renate Sachse; Kamera: Katell Djian; Musik: José Miguel Miranda, José Miguel Tobar, Hugues Maréchal; Schnitt: Emmanuelle Joly;

Länge: 82 Minuten; FSK: unbekannt; deutscher Kinostart: 10. Dezember 2015

Ein Film im Wettbewerb der 65. Berlinale 2015:
Silberner Bär für das beste Drehbuch
Preis der Ökumenischen Filmjury für einen Wettbewerbsfilm



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Der Film im Online-Katalog der Berlinale
<09.02.2015>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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