11.02.2017
Ein Wettbewerbsfilm der 67. Berlinale 2017

The Dinner (2017)


The Dinner (2017): Richard Gere, Rebecca Hall Im Jahr 2013 sorgte ein junger Texaner für Schlagzeilen. Mit 2,4 Promille im Blut war Ethan Couch mit einem Kleinlaster in ein liegengebliebenes Fahrzeug gerast. Vier Menschen kamen dabei ums Leben. Der Fall erhitzte die Gemüter – vor allem deshalb, weil die Verteidigung einen Psychiater hinzuzog, der Couch "affluenza" attestierte. Der Neologismus – kreiert aus "influenza" (Grippe) und "affluence" (Wohlstand) – umschreibt das Aufwachsen in einer materiell übersättigten Welt der Regellosigkeit. Daher sei Couch unfähig gewesen, die Konsequenzen seines Handelns einzuschätzen. Und tatsächlich kam der unter dem Hashtag #AffluenzaTeen bekannt gewordene Couch mit einer Bewährungsstrafe davon. Wie gehen Eltern damit um, wenn sich das eigene Kind als in höchstem Maße verantwortungslos, ja, sogar brutal, erweist? Oren Movermans Berlinale-Wettbewerbsbeitrag "The Dinner" wirft neben dieser noch einige weitere aktuelle und höchst relevante moralische Fragen auf, verzettelt sich aber in der Beliebigkeit, mit der diese aneinandergereiht werden. Und er verstört, wenn man die Antworten, die er nahelegt, konsequent zu Ende denkt.

Es hätte durchaus spannend werden können: Zwei ambitionierte Elternpaare aus der weißen Oberschicht: der eine Familienvater, Stan (Richard Gere), Kongressabgeordneter; sein Bruder Paul (Steve Coogan), kulturpessimistischer, von heftigen Minderwertigkeitskomplexen geplagter Geschichtslehrer im – offenbar vorgezogenen – Ruhestand. Die Ehefrauen, weder lediglich dekorativ noch naiv, beide tief vertraut mit der Rolle der Helikoptermutter. Und schließlich die empathiefreien Söhne der beiden Paare, die – alkoholisiert, gelangweilt und wohlstandsmüde – ein Verbrechen begehen, das äußerste Menschenverachtung offenbart.

Beim Dinner in einem exklusiven Lokal wird schließlich – immer wieder unterbrochen von Rückblenden in die Vergangenheit der Familien, Reminiszenzen an den amerikanischen Bürgerkrieg, inneren Monologen Pauls – die in ihrem redundanten Selbstmitleid irgendwann nur noch beträchtlich nerven –, Anspielungen auf psychische Probleme und, im gegenwärtigen Geschehen, Ablenkungen durch die politischen Aktivitäten Stans, schließlich – endlich!, möchte man als Zuschauer rufen, – die Frage verhandelt, wie denn nun mit der Tatsache umzugehen sei, dass die "guten Jungs, die einfach auf den falschen Weg geraten sind" (so Pauls Ehefrau Claire (Laura Linney)), eine Obdachlose angezündet und bei lebendigem Leib verbrannt haben. Natürlich nicht, ohne die perfide Hinrichtung mit dem Handy zu filmen.

The Dinner (2017): Steve Coogan, Rebecca Hall, Laura Linney Als der bis dahin durch Jammerei, Pöbelei und unentwegtes Monologisieren omnipräsente Paul sich am entscheidenden Punkt der Diskussion gänzlich ausklinkt, übernehmen die Ehefrauen respektive Mütter. Während Claire die Strategie verfolgt, ihren Sohn Michael und dessen Cousin Rick in einer interessanten Umkehrung der Tatsachen als arme Opfer darzustellen, argumentiert Stans Frau Katelyn (Rebecca Hall) aus rein egoistischen Motiven heraus: Ihr Mann schulde es ihr einfach, die leidige Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Schließlich habe sie viele Jahre lang unter den Entbehrungen, die seine politische Karriere mit sich gebracht habe, gelitten. Und ihr Mann Stan? Moverman überlässt dem Politiker nicht die Rolle der moralisch unbestechlichen Instanz. Er täuscht nur an. Zwar darf sein "Congressman" noch laut verkünden, die Söhne hätten für das begangene Unrecht vor dem Gesetz geradezustehen. Aber spätestens, als seine Frau alle Register zieht und damit droht, ihn zu verlassen, knickt er samt seiner moralischen Eckpfeiler ein.

Nun möchte man fast diesem Teil des Plots glauben, der zu unterstreichen scheint, der Film entlarve Heuchelei und Egoismus der selbsternannten Eliten. Doch das tut er allenfalls zaghaft – und nicht, ohne das Verhalten seiner Figuren gleich wieder zu relativieren. Denn jeder und jede hat gute Gründe, warum für ihn oder sie das Recht da aufhört, wo es um die eigene Familie geht: Paul ist in einer dysfunktionalen Familie groß geworden, in der die Mutter immerzu den großen Bruder vorgezogen hat. Jetzt erlebt er abermals Zurückweisung – und zwar angesichts des fast symbiotischen Verhältnisses, das seine Frau mit dem gemeinsamen Sohn pflegt. Kaum unterdrückte Wut und Selbsthass dominieren den vorgeblich so idealistischen Historiker, der weder aus seiner Bedürftigkeit noch aus seiner verengten Weltsicht herauszufinden vermag. Er ist psychisch angeschlagen, wenn nicht gar krank.

Claire, deren Mann somit zwar physisch präsent, aber nicht als Partner auf Augenhöhe zugänglich ist, braucht wiederum die Nähe zu Sohn Michael. Somit überrascht es nicht, dass sie zur Höchstform aufläuft, als es darum geht, das Geschehene zu verharmlosen, abzuschwächen und schließlich gänzlich umzudeuten. Verbrämt wird ihre Haltung mit einem haarsträubenden Konzept angeblicher Mutterliebe, das das scheinbar geliebte Objekt gänzlich aus der Verantwortung entlässt und somit zuverlässig infantilisiert. Das Kind muss nicht erwachsen werden. Es darf bei einer solchen Mutter auch gar nicht erwachsen werden. Sonst stünde ja Claire ganz alleine da – und ohne Partnersubstitut.

Stan ist bereits von einer Frau verlassen worden, mit der er zwei leibliche und ein Adoptivkind hat. In der attraktiven Katelyn hat er nun eine zweite Ehefrau und Partnerin gefunden, die sich um die Stiefkinder kümmert, während er zeitgleich mit maximalem Ehrgeiz seine politische Karriere vorantreiben kann. Der Zuschauer versteht. Stan ist auch nur ein Mensch. Ist schon unbequem, wenn man so viel zu verlieren hat: Status, Ansehen, Geld und Macht – und das wacklige Konstrukt Familie.

The Dinner (2017): Steve Coogan, Rebecca Hall, Richard Gere Weil der Film all diesen Erklärungen so unendlich viel Raum schenkt, weil er die Krokodilstränen der Frauen immer wieder in Nahaufnahmen zeigt, die Probleme der Ehepaare so detailliert – und gar nicht ungläubig – erörtert, und nicht zuletzt: weil demgegenüber das Gesicht der Obdachlosen, des tatsächlichen Opfers, nicht ein einziges Mal ganz gezeigt wird, bleibt ein deutlich größeres Unbehagen als nur ein schaler Nachgeschmack. Verknüpft man all diese Implikationen miteinander und denkt die immer wieder nur angerissenen Thesen in aller Konsequenz zu Ende – der Film tut es nicht –, dann ergibt sich in der Gesamtheit nichts anderes als eine Apologie jeglichen Verhaltens. Auch der größten Inhumanität. Man handelt, wie man eben handelt, weil man nicht anders kann. Das mag individuell natürlich höchst praktisch sein (wenn man in der Konstellation das richtige Individuum ist.) Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist es katastrophal.

Und es ist die große Schwäche dieses Films, der seinem Anspruch, Doppelmoral und Schwäche eines bestimmten Milieus als solche auszuweisen (einem ähnlichen Anspruch wie in der Roman-Polanski-Verfilmung von Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels", wo dieser jedoch eingelöst wird), letztlich nicht gerecht wird. Hinzu kommen formal-ästhetische Unzulänglichkeiten: Movermans Film mäandert zwischen Kammerspiel, Thriller und psychologisierenden Erklärungen, geht dramaturgisch nicht auf, kann sich erst spät entscheiden, welche Geschichte er erzählen mag. Von den Haupt- und Zwischengängen, den Apéritifs und Digestifs, die keine erkennbare Funktion haben, außer der, den Streifen auf die deutlich zu langen 120 Minuten zu strecken, ganz zu schweigen.  

Jasmin Drescher / Wertung: * (1 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Tobis Film GmbH

 
Filmdaten 
 
The Dinner (2017) (The Dinner (2017)) 
 
USA 2017
Regie: Oren Moverman;
Darsteller: Richard Gere (Stan Lohman), Laura Linney (Claire Lohman), Steve Coogan (Paul Lohman), Rebecca Hall (Katelyn Lohman), Chloë Sevigny (Barbara Lohman), Charlie Plummer (Michael Lohman), Seamus Davey-Fitzpatrick (Rick Lohman), Michael Chernus (Dylan Heinz), Stephen Lang (Erzähler) u.a.;
Drehbuch: Oren Moverman nach dem Roman von Herman Koch; Produzenten: Caldecot Chubb, Lawrence Inglee, Julia Lebedev, Eddie Vaisman; Kamera: Bobby Bukowski; Musik: Elijah Brueggemann; Schnitt: Alex Hall;

Länge: 120,58 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Tobis Film GmbH; deutscher Kinostart: 8. Juni 2017



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
 
 
 
 
Der Film auf berlinale.de
<11.02.2017>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe