29.12.2000

Intrigen in einer scheinbar heilen Welt

Süßes Gift

In Claude Chabrols Filmen ist immer Abgründiges hinter der Oberfläche der Figuren verborgen. Die Protagonisten wirken stets wie brave Mitbürger ihrer braven französischen Kleinstadt, um von Regisseur Chabrol dann entlarvt zu werden hinter ihrer jeweiligen Fassade; die freundlichsten Menschen entpuppen sich bei Chabrol als Mörder. "Süßes Gift" bildet da keine Ausnahme, denn jede der Figuren in Chabrols im Jahr 2000 gedrehten Film verfolgt ihre eigenen Ziele auf Kosten anderer.

Süßes Gift Alfred Hitchcock drehte 1960 "Psycho" schwarzweiß, weil er fürchtete, dass das Blut in der Duschszene eine zu große Zumutung fürs Publikum sein könnte. Die fehlende Farbe des Films hatte den Vorteil, dass nicht unbedingt rote Farbe verwendet werden musste, die sich mit dem Duschwasser mischt. Das Blut von Marion Crane (Janet Leigh) war in Wirklichkeit: Schokoladensauce!

Ob Claude Chabrol da an den großen Meister des Suspense, Hitchcock, gedacht hat? Denn sein "süßes Gift", so der Titel seines 52. Kinofilms, ist Schokoladenmilch. Bei Chabrol ergießt sich einmal die heiße Schokolade wie Blut über den Boden. Hat Mika (Isabelle Huppert) soeben die Thermoskanne absichtlich umgestoßen?, fragt sich Jeanne (Anna Mouglalis). Und wenn ja, warum? Jeanne stellt Nachforschungen an, denn irgendetwas stimmt in dieser Familie nicht, die sie wie eine Tochter des Hauses freundlich aufgenommen hat. Jeanne ist eventuell die leibliche Tochter des weltberühmten Pianisten André (Jacques Dutronc), den Mika kürzlich ein zweites Mal geheiratet hat. Die 18-jährige Jeanne erfährt zufällig, dass sie nach der Geburt beinahe vertauscht worden wäre, und zwar mit Guillaume (Rodolphe Pauly), Andrés Sohn aus der Ehe mit Lisbeth, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Oder gab es doch den Tausch? Jeanne ist begabte Nachwuchspianistin, Guillaume hingegen ein unmusikalischer Stubenhocker, sodass André zärtliche Gefühle für seine mögliche Tochter gewinnt und sie protegiert, sehr zum deutlichen Missfallen von Guillaume. Aber auch dessen Stiefmutter Mika ist Jeanne gegenüber nicht so aufgeschlossen wie sie sich gibt...

Süßes Gift Claude Chabrol, einer der bedeutendsten französischen Regisseure der Gegenwart, der für Filmklassiker wie "Blutige Hochzeit" (1973) und "Die Fantome des Hutmachers" (1982) verantwortlich zeichnet, dreht in den letzten Jahren eher leisere Filme. Auch "Süßes Gift", nach dem Roman "The Chocolate Cobweb" von Charlotte Armstrong gedreht, spielt in einer ruhigen, betulichen Atmosphäre, getragen von der bergigen Landschaft von Lausanne in der französischsprachigen Schweiz. Aber schon die Serpentinenstraße oberhalb des Genfer Sees, die zu Andrés Haus führt, hat etwas Bedrohliches. Denn von der Straße kam einst Lisbeth mit dem Auto ab und verunglückte tödlich. Chabrol wäre nicht Chabrol, wenn nicht einer der Protagonisten dafür gesorgt hätte oder zumindest ein den Film über latent die Szenerie beherrschender Verdacht konstruiert wird. Ein Verdacht, dessen Auflösung dem Ende von "Süßes Gift" leider eine gewisse Trivialität gibt, der große Schwachpunkt des Films.

Um den potenziellen Mord geht es in "Süßes Gift" aber nur sekundär. Chabrol ist ein Meister der Darstellung von Fassaden, die seine Figuren um sich herum aufgebaut haben zum Selbstschutz - und weil sie etwas zu verbergen haben, wie Jeanne, deren Karrierestreben väterliche Gefühle bei André auslöst. Jeannes Verhalten löst aber auch Konflikte mit den anderen Familienmitgliedern aus, Konflikte, die sowohl offen ausgetragen werden als auch unterschwellig vorhanden sind und vielleicht durch die einfachste Lösung, durch Mord, aus der Welt geschafft werden. Die Intrigenspiele in "Süßes Gift" sind das Glanzstück des Films. Chabrol steht ein exzellentes Darstellerteam zur Verfügung und der Regisseur setzt es grandios in Szene. Wie stellvertretend für alle Mitwirkenden wurde Isabelle Huppert 2000 auf dem Filmfestival in Montreal für ihre schauspielerische Leistung in "Süßes Gift" mit dem Preis als Beste Darstellerin ausgezeichnet.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Concorde Filmverleih


Filmdaten

Süßes Gift
(Merci pour le chocolat)

Alternativtitel: Chabrols Süßes Gift

Frankreich / Schweiz 2000

Regie: Claude Chabrol;
Drehbuch: Charlotte Armstrong, Claude Chabrol, Caroline Eliacheff nach dem Roman "The Chocolate Cobweb" von Charlotte Armstrong; Produktion: Marin Karmitz; Kamera: Renato Berta; Musik: Matthieu Chabrol; Schnitt: Monique Fardoulis;
Darsteller: Isabelle Huppert (Marie-Claire "Mika" Muller), Jacques Dutronc (André Polonski), Anna Mouglalis (Jeanne Pollet), Rodolphe Pauly (Guillaume Polonski), Brigitte Catillon (Louise Pollet), Michel Robin (Dufreigne), Mathieu Simonet (Axel) u.a.

Länge: 101 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 4. Januar 2001; Verleih: Concorde Filmverleih



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe