19.11.2010
Monsieur Chiches Gespür für Schnee

Small World

Bruno Chiche schickt Gérard Depardieu in Martin Suters gefährliche "Small World"

Small World: Filmplakat Die Welt ist klein. So winzig klein, dass man sich immer zweimal sieht. Und das zweite könnte das letzte Mal sein in der gefährlichen "Small World", die Bruno Chiche aus Martin Suters Roman erstehen lässt. Als Konrad Lang zurückkam, stand alles in Flammen, außer dem Holz im Kamin. Weil die leerstehende Ferienvilla der Industriellenfamilie Senn nicht wintertauglich ist, wollte sich der zerstreute Lang (Gérard Depardieu) im Gästetrakt aufwärmen. Nun wird es ihm zu heiß in dem Anwesen, in dem er schon als Hausmeister lebt länger als er sich entsinnen kann. An einige Dinge kann sich der alternde Lang nicht mehr recht erinnern. Darum vergisst er seine Brieftasche im Kühlschrank, den Regenschirm im Café nicht aufzuspannen und welches Jahr es ist. Nur die Jahreszeit zu bestimmen, fällt ihm leicht: Winter, darum liegt draußen Schnee. Durch ihn stapft er wie ein gewaltiger Winterschläfer, den es zu früh aus dem Halbtodesschlaf gerissen hat. Bis zum Haus des fast gleichaltrigen Thomas Senn (Niels Arestrup), in dem Konrad, Sohn des Hausmädchens, wie ein Ziehkind aufwuchs. Durch die "Piratentür" betritt er das vornehme Anwesen, das beherrscht wird von Thomas' Mutter Elvira (Françoise Fabian). Wie ein Einbrecher erscheint Konrad der schwermütigen Matriarchin, die fürchtet, dass die die seit Jahrzehnten unbenutzte Tür nicht das einzige Geheimnis ist, welches aus der Vergangenheit in Konrads verwirrter Erinnerung auftaucht, während die Gegenwart ihm entgleitet. Wenn es taut kommt an den Tag, was unterm Schnee verborgen lag... und der Schnee längst vergangener Jahre hat den Mantel des Schweigens über manch schmutzige Familienintrige gedeckt. Nicht kongenial, aber dennoch brillant ist Chiches Variation von Suters intimer Studie der Alzheimer-Krankheit als vertracktes Familienkomplott, dessen Figurenensemble einer Agatha Christie würdig ist.

Small World: Wie zu Kindheitstagen vereint: Konrad Lang (Gérard Depardieu) und Thomas Senn (Niels Arestrup). (Fotografin: Magali Bragard; Foto und Text: Majestic) In der unterkühlten Eleganz einer Ballade der Romantik inszeniert Bruno Chiche Martin Suters kriminalistisches Drama "Small World". Überall lauern subtile Metaphern in der malerischen Düsterkeit von Chiches Szenengemälden. Frostig wie die Winterlandschaft ist die Atmosphäre in dem weitläufigen Herrenhaus. Liebe erfriert in der vornehmen Kälte wie die drei von Konrads Zehen, nachdem er geistesabwesend durch das Weiße stapft. Gut, dass sieben seine Glückszahl ist, lächelt der wundervolle Konrad – senil? Wissend? "Manchmal glaube ich, Sie spielen nur", vermutet nicht nur seine Krankenschwester. Ein bravouröser Traumtänzer, ein der Welt abhanden Kommender ist Depardieus Konrad Lang. Nicht mehr der tragische Hauptcharakter aus Suters Novelle, sondern dessen schlafwandlerischer Seelenbruder.

"Wie kann mich Schlaf zufrieden laben –
Ich bin von weit durch Nacht und Schnee gekommen,
Durch dieselben Gassen hergeklommen,
Und will dich wieder, wieder haben!“

(Gerrit Engelke)

Small World: Thomas Senn (Niels Arestrup) und seine Ex-Frau Elisabeth (Nathalie Baye) treffen sich auf der Hochzeit ihres gemeinsamen Sohnes Philippe. (Fotografin: Magali Bragard; Foto und Text: Majestic) Was er unbewusst allein durch seine Rückkehr einfordert, erinnert den sanften Koloss nur als spielerischen Kinderreim. "Tomi – Koni, Koni – Tomi" – bis die grandiosen psychologischen Vignetten der aristokratisch-kalten Familienregentin einen grausigen Spiegel vorhalten und der letzte Besuch der alten Dame Konrad für immer süßes Vergessen bringen soll. Fabians äußerlich gefühlskalte, innerlich glühende Schneekönigin krönt den Gefühlsthriller, von Chiche aus der Schweiz nach Frankreich verlagert und herausragend besetzt bis in die kleinste Nebenrolle – wenn sich in dem komplexen Charaktergeflecht von Nebenrollen sprechen lässt. Grausame Ironie des Schicksals funkelt in der letzten Facette, die Chiches feingeschliffenes Filmjuwel enthüllt. Und der Schnee, der auf die Lebenden und die Toten fällt, scheint noch kälter zu werden durch einen Hauch traurige Zärtlichkeit.  

Lida Bach / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Majestic

 
Filmdaten 
 
Small World   
 
Frankreich / Deutschland 2010
Regie: Bruno Chiche;
Darsteller: Gérard Depardieu (Konrad Lang), Françoise Fabian (Elvira), Niels Arestrup (Thomas), Alexandra Maria Lara (Simone), Nathalie Baye (Elisabeth), Féodor Atkine (Scholler), Yannick Renier (Philippe), Olivier Claverie, Anne Benoît u.a.;
Drehbuch: Bruno Chiche nach dem Roman von Martin Suter; Produzenten: Nicolas Duval-Adassovsky, Yann Zenou; Co-Produzenten: Amelie Latscha, Felix Moeller; Kamera: Thomas Hardmeier; Musik: Klaus Badelt; Schnitt: Marion Monnier;

Länge: 98,43 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; ein Film im Verleih von Majestic Filmverleih; deutscher Kinostart: 16. Dezember 2010



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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