24.03.2019

Poll

Die Zeit um 1900 ist eine Phase des Umbruchs. Die industriellen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, neue Perspektiven der Wissenschaft, die Bildung von Nationalstaaten und das Erkennen globaler Zusammenhänge – all das mündete, könnte man verkürzend behaupten, in den Ersten Weltkrieg. Am Ende dieser als Fin de Siècle bekannten Schwellenzeit, im Jahr 1914 und damit am Vorabend des Ersten Weltkriegs, spielt "Poll", der dritte Film von Chris Kraus, dessen "Vier Minuten" weithin als Kleinod des deutschen Erzählkinos reüssiert.

Der Hauptschauplatz von "Poll", eine herrschaftliche Villa an der baltischen Ostsee, beschreibt die Atmosphäre des Historiendramas besser als jeder andere Bestandteil des Films. Auf bedrohlich klapprig wirkenden Stelzen ist das Haus direkt ans Meer gebaut, verfaulendes, morsches Holz macht Teile des Gebäudes unbegehbar. In einem Labor betreibt der Arzt Eddo von Siering (Edgar Selge) auf eigenes Geheiß absonderliche Studien am menschlichen Gehirn, für die er illegal erworbene Leichen estnischer Widerständler seziert, während seine 14-jährige Tochter Oda (Paula Beer) auf dem Dachboden den verwundeten Esten "Schnaps" (Tambet Tuisk) versteckt, der sie in Literatur und Kunst einweiht und für den sie zarte romantische Gefühle hegt. Verschiedene Weltanschauungen treffen in der maroden Villa aufeinander, die jeden Moment in sich zusammenstürzen könnte und damit die von Zukunftsängsten flankierte Umbruch- und Krisenstimmung jener Tage metaphorisch bebildert. Chris Kraus' auch ansonsten bildgewaltiges Familienporträt findet dafür ein treffendes Bild: Blutrot versinkt die Abendsonne hinter dem Anwesen der Aristokratenfamilie.

Die Grundanlage von "Poll" erinnert an die "Buddenbrooks" aus dem Jahr 1901, deren wesentliches Motiv ebenfalls der Verfall ist. Doch die feine, mit Ironie durchsetzte Figurenzeichnung von Thomas Mann erreicht Chris Kraus nicht: Wenngleich die Schauspieler, insbesondere die junge Debütantin Paula Beer, allesamt reife Leistungen abliefern, verstellen die symbolisch aufgeladenen, großen Kinobilder von Daniela Knapp, die aufwendige Ausstattung und die sehr präsente Musik bisweilen den Blick auf das Innere der Figuren. Andererseits öffnet die atmosphärische Wirkungskraft der Bilder einen anderen, rein filmischen Zugang zu den Befindlichkeiten der Figuren: Dass Chris Kraus weitgehend auf eine straffe Dramaturgie verzichtet, ist von dieser Warte aus betrachtet eine recht glückliche Entscheidung.



Diese Filmkritik ist zuerst erschienen bei fluter.de.

 

Christian Horn / Wertung: * * * (3 von 5)



Filmdaten

Poll


Deutschland/Österreich/Estland 2010
Regie: Chris Kraus;
Darsteller: Paula Beer (Oda von Siering), Edgar Selge (Ebbo von Siering), Tambet Tuisk (Schnaps), Jeanette Hain (Milla von Siering), Richy Müller (Mechmershausen), Enno Trebs (Paul von Siering), Jevgenij Sitochin (Hauptmann Karpow), Susi Stach (Gudrun Koskull), Erwin Steinhauer (Professor Plötz), Michael Kreihsl (Professor Hasenreich), Gudrun Ritter (Oda Schaefer) u.a.;
Drehbuch: Chris Kraus nach den Memoiren von Oda Schaefer; Produzentinnen: Alexandra Kordes, Meike Kordes; Kamera: Daniela Knapp; Musik: Annette Focks; Schnitt: Uta Schmidt;

Länge: 139 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 3. Februar 2011



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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