15.09.2015
Zwischen Nervenkitzel und Sinnsuche

Nobody from Nowhere


Als wir ihm erstmals begegnen, ist er ein Mann ohne Gesicht. Sébastien Nicolas, ein unauffällig wirkender Immobilienmakler, führt ein Doppelleben. Er studiert seine Klienten, ihre Art zu sprechen und ihre Gesten, und er imitiert sie. Mit selbst gefertigten Latexmasken schlüpft er in die Rolle seiner Klienten, nimmt an ihrer Stelle am fremden Leben teil. In einer frühen Szene des Films sehen wir diesen Nicolas Schuhe kaufen, Wanderstiefel, wie sie einer seiner Klienten zu tragen pflegt. Nicolas befindet sich am Beginn einer weiten Reise: "Nobody from Nowhere" erzählt von einem, der auf Wanderschaft geht und sein Leben ändern wird, auf denkbar radikale Weise.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit soll Nicolas dem zurückgezogen lebenden Henri de Montalte eine geeignete Wohnung vermitteln. Dass er den unscheinbaren Makler nicht recht einschätzen kann, weckt die Neugier des alternden Stargeigers. Im Gespräch unter vier Augen entpuppt sich der in Talkshows charmant auftretende Exzentriker als zynischer Menschenfeind, zu dessen wenigen Freuden es gehört, seine Assistentin zu piesacken. Dennoch kann Nicolas nicht widerstehen und dringt ins Leben - und in die Wohnung - seines Auftraggebers ein. Im Treppenhaus trifft er, noch immer verkleidet, auf die ehemalige Geliebte des Stars. Inständig bittet sie ihn, er möge sich um den gemeinsamen zwölfjährigen Sohn kümmern. Nicolas gibt ihren Bitten nach und verstrickt sich unweigerlich tiefer in ein fremdes Leben ...

Obwohl keine der beiden Hauptfiguren als Sympathieträger taugt, hat Matthieu Delaporte einen Film inszeniert, der stets fesselt. Das Maskenspiel könnte durchschaut werden, ein Schwindler ertappt, das treibt "Nobody from Nowhere" voran, während der Regisseur en passant existenzielle Fragen verhandelt und sein Film gewandt zwischen Thriller und Drama changiert.

Eine Autofahrt nach einer Taufe im Kreis der eigenen Familie zeigt Nicolas auf der Rückbank beiseitegedrängt; die zentrale Position kommt dem Kindersitz zu. Später muss Nicolas Vaterpflichten übernehmen. Vincent, ein hochbegabter junger Violinist, leidet darunter, dass sein Vater Henri de Montalte nie für ihn da war. Sie habe ja versucht, erklärt die Mutter, dem Kind zu vermitteln, warum der berühmte Vater abwesend war: Der Stargeiger hat nur für seine Musik gelebt. Nicolas wiederum ist erschreckend gut darin, den echten Vater nachzuahmen, kann die Ansichten des narzisstischen Künstlers überzeugend vertreten. Der Niemand und der Künstler von Weltrang ähneln sich weitaus mehr, als es zunächst den Anschein hat. Beide verfügen sie über eine ausgeprägte soziopathische Ader. Beide sind sie unzufrieden, uneins mit ihrer Umgebung. Die Bildwelten, in denen sie sich bewegen, fängt die Kamera in Grau- und Brauntönen ein; das Leben des Stars verläuft ernüchternd unglamourös. Nicht zuletzt wirft der Film einen Blick auf die biografischen Rahmenbedingungen, unter denen Kunst entsteht. Bei seinem ersten gemeinsamen Spaziergang mit Vincent erinnert Nicolas an Bach und andere berühmte Komponisten, die vaterlos groß geworden sind. Der junge Violinist solle sich freuen, Waise zu sein.

Allmählich begreift Nicolas, welchen Schaden er mit seinen Imitationen bei Vincent angerichtet hat, will die Fehler korrigieren und wächst, Rückschlägen zum Trotz, Schritt für Schritt in eine neue Rolle hinein. Wenn der Film Kinder als Lebensinhalt versteht, als Mittelpunkt eines erfüllten Lebens, befindet er sich im Einklang mit breitenwirksamem Hollywood-Kino, und wie sich Nicolas im Polizeirevier Informationen über den Stand der ihn betreffenden Ermittlungen verschafft, ist ein Kabinettstückchen, das Ethan Hunt in "Mission: Impossible" nicht besser hätte gelingen können. Delaporte macht sich die Mechanismen des amerikanischen Mainstream-Kinos zunutze, unterwirft sich ihnen aber nie. "Nobody from Nowhere" kommt vergleichsweise unaufdringlich daher, scheut ein Übermaß an Sentimentalität, verzichtet bewusst auf maximale Gefälligkeit. Sein Protagonist Sébastien Nicolas bildet keine einfache Projektionsfläche für den Kinogänger, dazu ist die Rolle zu pathologisch angelegt, und auch als der Niemand schließlich aus der Bedeutungslosigkeit ausbricht, ein Ziel vor Augen hat und eine Familienzusammenführung in die Wege geleitet wird, lösen sich längst nicht alle Probleme in Wohlgefallen auf.

Die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit muss der Zuschauer schon hinnehmen. Den Schauspielern bietet das Drehbuch dagegen den nötigen Freiraum, über das Niveau eines gewöhnlichen Thrillers hinauszuwachsen - in der Doppelrolle als Sébastien Nicolas und als Henri de Montalte sticht Mathieu Kassovitz hervor. Mit dem Ergebnis, dass der anfangs unauffällig wirkende "Nobody from Nowhere" lange im Gedächtnis bleibt.  

Marcus Gebelein / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

 

 
Filmdaten 
 
Nobody from Nowhere (Un illustre inconnu) 
 
Frankreich 2014
Regie: Matthieu Delaporte;
Darsteller: Mathieu Kassovitz (Sébastien Nicolas / Henri de Montalte), Marie-Josée Croze (Clémence Corneli), Éric Caravaca (Kapitän Deveaux), Hugo Le Martret (Vincent Corneli), Siobhan Finneran (Elizabeth Traven), Olivier Rabourdin (Pierre Chambard), Geneviève Mnich (Hélène Nicolas) u.a.;
Drehbuch: Matthieu Delaporte, Alexandre de La Patellière; Produzenten: Dimitri Rassam, Jérôme Seydoux; Kamera: David Ungaro; Musik: Jérôme Rebotier; Schnitt: Célia Lafitedupont;

Länge: 118 Minuten; FSK: noch nicht bekannt; deutscher Kinostart: noch nicht bekannt



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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