22.11.2009
Bergsteigerdrama am Limit der historischen Wahrheit

Nanga Parbat


Nanga Parbat Vor fast genau vierzig Jahren legte Reinhold Messner seinem Bruder Günther im heimatlichen Südtirol ein Telegramm unter den Weihnachtsbaum: "Bin mit Günther einverstanden. Karl." Eine Nachricht vom Leiter der deutschen Nanga-Parbat-Expedition, Dr. Karl Maria Herrligkoffer, die von der Teilnahmeerlaubnis für Günther Messner kündet und das Leben der Messner-Brüder entscheidend beeinflussen wird. Die Messners sind jung und ebenso ambitionierte wie fähige Bergsteiger. Beide streben buchstäblich nach Höherem, sie wollen der miefigen Enge der Südtiroler Gebirgstäler entfliehen, gieren nach neuen Herausforderungen. Ein gutes halbes Jahr später wird der eine Bruder begraben unter einer Lawine an der Nordwestseite des "deutschen Schicksalsbergs" liegen. Für den anderen, den mit Glück überlebenden Reinhold, beginnt ein Leben als weltberühmter Bergsteiger, Weltenbummler und Grenzgänger. - Regisseur Joseph Vilsmaier ("Herbstmilch" 1989, "Comedian Harmonists" 1997) erzählt nun das Drama nach, das sich im Sommer 1970 im Himalaja abspielte. Herausgekommen ist ein nicht nur in historischer Hinsicht fragwürdiger Film.

Nanga ParbatDer echte Reinhold Messner (im Film gespielt von Florian Stetter) ist heute nicht nur ein weltbekannter und hochgeachteter Alpinist, er ist auch erfolgreicher Buchautor, ein talentierter obendrein. Leider, möchte man hinzufügen, denn sein Buch "Der nackte Berg" aus dem Jahr 2002 [1] ist das einzige Augenzeugendokument der schicksalhaften Geschehnisse am Nanga Parbat in jenen Tagen nach dem 27. Juni 1970. Das ist der Tag, an dem die Messner-Brüder erstmals über die bis dahin unbezwungene Südwand (Rupalflanke) den mit 8125 Metern neunthöchsten Berg der Welt erklommen hatten. Die nackte Wahrheit indes erzählt das Buch nicht. Man muss es als ein gut geschriebenes Kapitel aus dem großen, mittlerweile weitgehend abgeschlossenen Werk "Dichtung und Wahrheit historischer Bergbesteigungen" lesen. Die Verwirrung fängt bei den Daten an und reicht bis zu ambivalenten Interpretationen der Ereignisse am Berg. So irrt Reinhold Messner schon auf Seite 95, wo er über die jugendlichen Anfänge seiner Kletterpassion in Südtirol wissen lässt: "Ich war dreizehn, mein Bruder Günther zwölf Jahre alt." Diese unbewusste Altersangleichung ist gerade auf dem Hintergrund der intimen Buchwidmung an "Günther, meinem Bergkameraden und Bruder" vielsagend, war Günther (im Film dargestellt von Andreas Tobias) doch tatsächlich nicht nur über zwei Jahre jünger als Reinhold [2], sondern auch der schwächere Bergsteiger. Messner, allzeit eloquent bemüht, dem bergsteigerischen Laien ein eingängiges Bild von den besonderen individuellen und mentalen Anforderungen des Höhenkletterns zu vermitteln, fällt es offenbar schwer, Fakten als solche auszuweisen und seinen Beitrag in ihnen zu bewerten. Dass nun Vilsmaier "Der nackte Berg" offensichtlich als literarisches Referenzwerk benutzt hat, ist also alles andere als eine Randnotiz zum Film; es wirft nicht nur die alte Frage nach der Besonderheit der Verfilmung von Dokumentarbüchern auf, es setzt den Film auch in eine besondere Verantwortung ein.

Nanga ParbatAuch Messners Darstellung jener Schlüsselbegebenheit, als die beiden Brüder am Morgen des 28. Juni 1970 während des Abstiegs vom Nanga-Gipfel und nach einer bitterkalten, nur mit knapper Not überstandenen Biwaknacht eine unüberwindbare Stelle oberhalb der "Merkl-Rinne" erreichen, die soeben von den Expeditionskameraden Felix Kuen und Peter Scholz - wie von den Messner-Brüdern am Vortag - in Richtung Gipfel durchstiegen worden ist, hat nicht erst seit dem Erscheinen des Buchs Anlass zu erhitzten Disputen unter den ehemaligen Expeditionsmitgliedern und in der Öffentlichkeit gegeben. Die Merkl-Rinne ist nach Ansicht vieler Alpinisten die schwierigste Kletterpassage knapp unterhalb des Nanga-Gipfels, aufgrund seiner Lage, Höhe und Steilheit das vielleicht schwerste Kletterstück weltweit. Nach Messners Schilderung habe er seine Kameraden über eine Entfernung von 80-100 Metern Luftlinie um Hilfe nach einem Seil angerufen, die einzige Möglichkeit, zusammen mit dem erschöpften und höhenkranken Bruder zurück auf die Aufstiegsroute und somit in die rettenden Höhenlager gelangen zu können. Dieser dringend gemeinte, aber bezeichnenderweise nicht entsprechend deutlich signalisierte Hilferuf sei aber aufgrund des ohrenbetäubenden Windes von Kuen und Scholz nicht verstanden worden. Jedenfalls hätten die Kameraden, von Reinhold beschwichtigt, dass bei den Brüdern "sonst alles in Ordnung" sei (S. 212), ihren Weg zum Gipfel fortgesetzt - was zur Folge hatte, dass die rettende Hilfe ausblieb und der Abstieg der Messners über die andere Bergseite (Diamirflanke), auf der schließlich Günther den Lawinentod fand und Reinhold nur mit Glück und der aufopfernden Hilfe der Bergbevölkerung überlebte, unvermeidlich wurde. Kuen hingegen behauptete schon 1972: "Wir hätten nicht nur helfen können! - Wir hätten geholfen! Aber Reinhold zeigte gegen die Diamir-Seite, rief ein Grußwort, bückte sich, als wollte er etwas aufheben, und verschwand hinter dem Grat!" [3] Diese Beteuerung und die Tatsache, dass Scholz und Kuen tatsächlich ihren Aufstiegsweg änderten und nach einigen Stunden nahe oberhalb der Stelle vorbeikamen, von der aus Messner gerufen hatte, stehen in krasser Unvereinbarkeit zu dessen finaler Überzeugung: "Nicht nur unsere Standpunkte waren zu weit voneinander entfernt. Jedem war nur ein Rest seiner Welt geblieben. Eine Verständigung war also nicht möglich." (S. 211 f.)

Nanga ParbatWar diese Begebenheit in der Merkl-Rinne, wie besonders Messner glauben machen will, nur eine Verständigungsschwierigkeit in der sauerstoffarmen, winddurchpeitschten Todeszone? Oder belegen nicht vielmehr die darum nachträglich gerankten Auslegungen, Verteidigungen und Vorwürfe das eigentliche Bergsteiger-"Drama", das (falls ein nüchterner Betrachter dieses Wort überhaupt verwenden würde) wohl am ehesten in der Betriebsblindheit des Gipfelstürmers und seiner eigentümlichen Unfähigkeit zu suchen ist, im entscheidenden Moment altruistisch zu denken und zu handeln? - Vilsmaiers Film indes kümmert sich wenig um solche moralischen Überhänge, seine Darstellung der Ereignisse zielt auf den dramatischen Effekt, die schicksalhafte Verknüpfung und Erfüllung von Ereignissen. Wer Messners Buch aufmerksam gelesen hat, den verlässt auch der Eindruck nicht, dass Vilsmaier lediglich dokumentarisch verfährt: "Nanga Parbat" ist eine minutiöse Verfilmung von "Der nackte Berg". Man kann Vilsmaier geradezu dabei über die Schulter blicken, wie er Messners eigensinnige Rechtfertigungsversuche, aber auch seine Charakterzeichnungen der anderen Expeditionsmitglieder und die seiner eigenen Outsider-Rolle im Team in Szene setzt.

Fast eine dreiviertel Stunde Filmzeit vergeht, in der die Kindheit der Messners als sich verschwörende Brudergemeinschaft in dörflicher Idylle gezeichnet wird. Vom einem "mit der Hundepeitsche" prügelnden Vater Messner (gespielt von Horst Kummeth) sehen wir im Film jedoch nichts, obwohl Reinhold Messner, der Vilsmaier als Berater und Drehbuchcoautor zur Seite stand, in seinem Buch davon spricht und die Brutalität des Vaters gar als ausschlaggebend für das Solidaritätsgefühl unter den Brüdern ansieht. Dafür scheint der Dorfpfarrer (Matthias Habich) für Vilsmaier eine umso größere Rolle bei der Adoleszenz der Messner-Brüder gespielt zu haben: Wir sehen ihn sowohl zu Beginn als auch am Ende des Films, wo er anlässlich der Trauerfeier zu Günthers Tod von "Schuld" spricht, die derjenige unvermeidlich auf sich lade, "der Verantwortung übernimmt". Die folgenden beiden Drittel des Films zeigen die Anreise nach Pakistan, die Gipfelerstürmung des Nanga Parbat sowie den Überlebenskampf von Reinhold Messner auf der Diamirseite des Berges.

Nanga Parbat: Herrligkoffer (Karl Markovics) mit BergansichtDurch jene Nichterwähnung eines wichtigen entwicklungspsychologischen Moments verstrickt sich Vilsmaier in der Folge in eine Darstellung der problematischen Beziehung der Messner-Brüder zum Expeditionsleiter Herrligkoffer. Den "Leader" (O-Ton Reinhold Messner) verbindet, wie Messner ausführlich beschreibt und Vilsmaier ausgiebig nachvollzieht, ein eigenes Brudertodschicksal mit dem Nanga: Sein Halbbruder Willy Merkl starb 1934 mit mehreren Kameraden beim Versuch, den Berg zu besteigen. Herrligkoffer (brillant dargestellt von Karl Markovics) ist es nun, der als autoritärer, kleingeistig-verkniffener Übervater hingestellt wird, während die Messners als bergsteigerisches Outlawduo erscheint, das zu filmisch unterstützender 60er-Jahre-Rockmusik umstürzlerische Gedanken über den Führungsanspruch Herrligkoffers und die Unterwürfigkeitstendenzen der anderen Expeditionsmitglieder entwickeln.

Diese lesen sich schon in Messners Beschreibungen etwa so: "Felix (Kuen), ein Heeresbergführer aus Nordtirol, gebärdet sich als prädestinierter 'Gipfelsieger', obwohl er unsicher ist. Das gibt ihm etwas Verbissenes." (S. 109) Vilsmaiers Charakterzeichnungen des Teams oder einzelner Mitglieder bleiben dagegen blass, wenn es sie überhaupt gibt. Der Film zeigt die Kameraden als Statisten, einen bunten, feierfröhlichen Haufen unbedarfter Naturburschen im Pfadfindercamp des Basislagers, willenlos agierende Lakaien des übermächtigen Herrligkoffer. Dabei handelte es sich immerhin, wie Messner einräumt, bis auf wenige Ausnahmen um "erfahrene Bergsteiger: die Elite des deutschsprachigen Alpinismus um 1970" (S. 111), die auch tatsächlich entscheidenden Anteil an der erfolgreichen Ausstattung der Höhenlager in den Tagen und Wochen vor den Gipfelgängen hatten.

Für Vilsmaier aber, ganz das Alter Ego Messners, zählen solche Fakten, zählt die Teamleistung nicht. Allenfalls Scholz und Kuen (Sebastian Bezzel und Steffen Schroeder, deren schauspielerische Leistungen entsprechend ausfallen) wird so etwas wie Persönlichkeit zuerkannt, jedoch nur insofern, wie sie als mahnende Stimme des gebietenden Herrligkoffer im Basislager fungieren kann. Das ist insofern seltsam, als Messner in zahllosen Stellen seines Buchs Herrligkoffer gerade dahingehend anklagt, er habe den Kollektivgedanken zu sehr, die individuelle Leistungsfähigkeit und visionäre Kraft einzelner - womit Messner natürlich seine eigene meint - aber zu wenig im Blick gehabt. Vilsmaier erliegt damit der Versuchung einer Heroisierung des Brüderpaars nach Reinhold Messners Lesart, ohne jedoch dessen tragisches Schicksal als überlebender Bruder bzw. die daraus entstehende Rechtfertigungsnot zu teilen. Er stellt das "Drama" des Überlebenskampfes am Berg völlig unkritisch als Auflehnung des höheren, aufstrebenden Individuums gegen die Niedrigkeit des bloß zählbaren Kollektiverfolgs dar. Anders gesagt, er versäumt es, seinen filmischen Beitrag zur längst überfälligen Auflösung des antiquierten Mythos vom zielstrebigen Einzelkämpfer zu leisten, der sein Überleben in eisigen Höhen nur aus eigener Kraft zu sichern - oder unterzugehen habe. (Eine Alternative, die Messner auch heute noch gerne vertritt, wenn er vom "schmalen Grat zwischen Durchkommen und Umkommen" spricht, auf dem wahres Bergsteigertum balanciere.)

Nanga Parbat: FilmplakatAuch wenn man es zur "künstlerischen Freiheit" des Regisseurs zählen muss, die Dramatik des Geschehens durch die Überzeichnung der Unvereinbarkeit der persönlichen Ziele Herrligkoffers und der Messners ins Werk zu setzen, so muss doch die Bemerkung angebracht sein, dass eine solche Herangehensweise an den Stoff nicht eben viel zur Wahrheit beiträgt, um die sogar Messners Buch erkennbar ringt. Auch wenn "Nanga Parbat" kein Dokumentarfilm ist und sein will, so erscheint doch die Vereinfachung, alles zu einer Sache des Willens und der Willkür zu machen, tendenziös und grob fahrlässig. Vilsmaier vergisst, nach der Wahrheit der "wahren Geschichte" zu fragen, die er nacherzählen will, der historischen Wahrheit. Diese sieht, wie nicht zuletzt die Diskussion um Messners Buch zeigt, über persönliche Beziehungen hinweg. Dafür stellt sie die Fragen nach Schuld und Verantwortung auf einer tieferen, banaleren wie menschlicheren Ebene umso nachdrücklicher: Hat Günther richtig gehandelt, als er sich gegen den Rat seines Seilkameraden Gerhard Baur (im Film: Gerd Bauer, gespielt von Volker Bruch) von diesem entfernte, anstatt die Merkl-Rinne, wie es von ihm gefordert war, für den Abstieg der Gipfelgänger zu versichern? Hätte Reinhold seinen einsamen und eigenmächtigen Gipfelgang überhaupt mit Günther fortsetzen dürfen, nachdem dieser nach kräftevernichtender Kletterarbeit in der Merkl-Rinne zu Reinhold aufgeschlossen hatte? Warum zogen die Messner-Brüder den Abstieg in die völlig unbekannten Hänge der Diamir-Flanke der Erwartung der immerhin möglichen Ankunft von Scholz und Kuen vor? Und hatte Reinhold nicht schon damals die falsche Überzeugung, die Bergkameraden Scholz und Kuen hätten ihm sowieso nicht helfen können, gar wollen?

All diese Fragen lässt Vilsmaier offen und verbannt sie in einen moralinsauren Raum jenseits der hohen Gipfel. Mit anderen Worten: Ihm gelingt nicht der Abstieg vom Gipfel der Tragik in die Niederungen der menschlichen Eitelkeiten und Befangenheiten. Sein Film ist großspurig, wo er den Alpinismus als Herausforderung zu Ehrgefühl, Individualität und Eigensinn entwirft; und arrogant und leichtgläubig, wo es um die Folgen und die Fragen geht, die sich daraus in der Nachbetrachtung ergeben. Vilsmaiers Übersetzung der Messner'schen Dokumentation ins filmische Drama-Genre misslingt, weil der Regisseur nicht auch nur ansatzweise eine Deutung versucht. Wer sich "Nanga Parbat" trotzdem oder ohne vorherige Buchlektüre, beispielsweise wegen der grandiosen Gebirgsaufnahmen an Originalschauplätzen, ansehen möchte, bitteschön. Nur muss er dann damit rechnen, von nichtssagenden Statements wie dem des Dorfpfarrers verschüttet zu werden, mit denen man schlichtweg alles entschuldigen, nicht aber ernsthaft die Schuldfrage stellen kann.

Quellenverweise:

[1] Reinhold Messner (2002): Der nackte Berg. Nanga Parbat - Bruder, Tod und Einsamkeit; 2. Aufl.; Malik Verlag München; ISBN 3-89029-211-9.

[2] Vgl. die Daten in den Wikipedia-Einträgen zu den Namen "Günther Messner" und "Reinhold Messner" (Stand: 19.11.2009)

[3] In: Karl Ruef (1972): Felix Kuen - Auf den Gipfeln der Welt; Stocker Verlag Graz; ISBN 3-7020-0161-1.  

Frederik Schlenk / Wertung: * (1 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Senator / Central Film

 
Filmdaten 
 
Nanga Parbat   
 
Deutschland 2009
Regie: Joseph Vilsmaier;
Darsteller: Florian Stetter (Reinhold Messner), Andreas Tobias (Günther Messner), Karl Markovics (Karl Maria Herrligkoffer), Jule Ronstedt (Alice von Hobe), Steffen Schroeder (Felix Kuen), Volker Bruch (Gerd Bauer), Lena Stolze (Mutter Messner), Sebastian Bezzel (Peter Scholz), Markus Krojer (junger Reinhold Messner), Lorenzo Nedis (junger Günther Messner), Horst Kummeth (Vater Messner), Sunnyi Melles (Diplomatengattin), Michael Kranz u.a.; Drehbuch: Reinhard Klooss, Sven Severin, Reinhold Messner; Produktion: Joseph Vilsmaier, Perathon Film- & Fernseh GmbH; Kamera: Helmfried Kober, Joseph Vilsmaier; Länge: 104 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; ein Film im Verleih von Senator; deutscher Kinostart: 14. Januar 2010



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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