10.02.1999

My Name is Joe

Beckenbauer, Netzer und Hölzenbein laufen auf das Fußballfeld. Doch im Hintergrund erheben sich nicht unzählige Ränge voller johlender Zuschauer, sondern die grauen Wohnsilos von Glasgow. Selbst hier läßt die triste Umgebung Joe Kavanaghs Mannschaft nicht ganz los. Joe trainiert die Mannschaft, die aus Jugendlichen aus dem gesellschaftlichen Abseits besteht. Immerhin spielt sein Team, das Joe als seine "Familie" betrachtet, in Trikots der deutschen Weltmeisterelf von 1974 – ein komischer Anblick, denn für viele Spieler von Joes Mannschaft wäre es bereits eine Höchstleistung, ihr Leben ohne Drogen und Kriminalität in den Griff zu bekommen.

Zum Beispiel Liam und seine drogensüchtige Freundin Sabine. Beide haben hohe Schulden bei McGowan, dem Drogenboß von Glasgow. Als dieser ungeduldig wird, erklärt sich Joe, Liam und Sabine zuliebe, bereit, zwei Botendienste für McGowan zu übernehmen. Das größte Problem dabei: Joe hat sich verliebt, und zwar ausgerechnet in die Sozialarbeiterin Sarah. Sie darf von Joes Drogenkurierdienst nichts mitbekommen...

Sensibel erzählt der Film die Liebesgeschichte zwischen Joe, dem schon einige Haare auf dem Hinterkopf fehlen, und Sarah, auf deren Gesicht sich die ersten Falten abzeichnen. Dabei scheinen die Charaktere nicht neu zu sein: Joe, ein harter, aber nicht gefühlsarmer Kerl, der selbst aus dem Milieu stammt (immerhin ist er seit einem knappen Jahr trocken), dagegen Sarah, die Sozialarbeiterin, die zumindest anfänglich kleingläubig ist und in einer "kleinen, sauberen Welt" (so Joe) lebt. Beide Charaktere werden durch ihre Darsteller Peter Mullan und Louise Goodall perfekt verkörpert. Schwer nachvollziehbar ist allerdings Sarahs übertrieben zickige Reaktion, als Joe ihr einen Ring schenken möchte.

Auch alle anderen Schauspieler passen gut in ihre Rollen. Eine witzige Nebenfigur ist "Franz Beckenbauer". Der stämmige, kahlköpfige Junge hampelt im Trikot des Fußballprofis völlig unsportlich über den Platz. Doch nachdem vor allem am Anfang des Films einige heitere Szenen zum Lachen reizten, wird die Realität immer schonungsloser gezeigt: In Nahaufnahme setzt sich Sabine eine Nadel in die Vene. Sie und Liam wirken absolut authentisch. Bei beiden wird außerdem deutlich, daß Regisseur Ken Loach nicht der Gesellschaft und der britischen Politik allein das Elend in die Schuhe schiebt, sondern daß es auch selbst verursacht ist.

Raffiniert, aber meist ohne eigene Ideen, vermittelt Regisseur Loach die zunehmende Ausweglosigkeit und Verzweiflung seiner Figuren. Immerhin passen die "gebrauchten" stilistischen Mittel immer und verfehlen daher ihre Wirkung nicht.

So zeigt die Kamera zu Beginn einige Halbtotalen, doch am Ende verdeutlicht sie die scheinbare Ausweglosigkeit, in der die Personen sich befinden, durch eingeschnürte, beengende Bildausschnitte. Besonders bewußt arbeitet Loach mit dem Einsatz von Licht. Am Anfang ist es hell, die Welt noch scheinbar in Ordnung. Doch dann schnürt sich das Netz zu, und es ist fast völlig dunkel, als Liam in der schrecklichen vorletzten Szene noch einmal den betrunkenen Joe aufsucht. Kontrast prägt das Verhältnis von Gegenwart und Rückblenden: Als Joe davon berichtet, wie er seine Frau im Vollrausch geschlagen hat, werden diese Szenen eingeblendet: Die Bilder sind dunkel und körnig. Im nächsten Augenblick jedoch sieht man den geläuterten Joe in hellem Licht mit klaren Gesichtszügen.

Raffiniert ist das Spiel mit dem Tempo: Als Joe sich verzweifelt gegen McGowan auflehnt, ist die Bildfolge schnell, die Lautstärke hoch. Dann kommt Joe die Treppe hinauf, schon etwas langsamer, und grausam ruhig ist schließlich die Szene, in der Joe sich den ersten Wodka seit langer Zeit eingießt.

Ein wahres Happy-End gibt es nicht, aber ist das Ende traurig genug? Objektiv gesehen ist es ziemlich offen, doch die leuchtendsten Farben des gesamten Films deuten eher einen wünschenswerteren, aber zugleich unrealistischen Schluß an, denn es gilt: Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker.  

Tobias Vetter / Wertung: * * * (3 von 5)



Filmdaten

My Name is Joe
(My Name is Joe)

GB 1998
deutscher TV-Titel: Mein Name ist Joe
Regie: Ken Loach; Drehbuch: Paul Laverty; Produktion: Parallax Pic./Road Movies; Produzentin: Rebecca O'Brien; Kamera: Barry Ackroy; Musik: George Fenton; Schnitt: Jonathan Morris;
Darsteller: Peter Mullan (Joe), Louise Goodall (Sarah), Gary Lewis (Shanks), Lorraine McIntosh (Maggie), David McKay (Liam), Annemarie Kennedy (Sabine), David Hayman (McGowan) u.a.

Länge: 105 Minuten; FSK: ab 12 Jahren

Auszeichnungen: (Auswahl) Goldene Palme für Peter Mullan ("Bester Schauspieler"), Publikumspreis beim Filmfestival Locarno



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