22.04.2013
Mutter und Sohn
Zumindest im Kino scheint Rumänien seinen Platz in Europa gefunden zu haben. Endlich, muss man sagen, mit Blick auf all die unsäglichen und unterschwellig rassistischen Debatten der letzten Zeit über kriminelle Roma, unliebsame Arbeitsmigration und die Sicherheit der europäischen Außengrenzen. Mit dem diesjährigen Goldenen Bären für "Mutter und Sohn" des rumänischen Regisseurs Calin Peter Netzer widerfährt Rumänien zumindest auf der Leinwand ästhetische Gerechtigkeit. Kunst ist damit wieder einmal klüger als Politik und das auch, weil es ihr wie mit diesem Film gelingt, die gesellschaftlichen Zustände eines Landes mit ästhetischen Mitteln so zu verdichten und durchdringen, dass man alle politischen Einschätzungen über die Europafähigkeit dieses Landes für einen Moment getrost vergessen kann.
Ja, die "Zustände"... zum Glück betrachtet Netzer sie mit einem kühlen Blick und verzichtet auf die soziale Glaubwürdigkeit einer pseudo-realistischen Gesellschaftsdiagnose. Das rumänische Kino widersetzt sich dankenswerterweise schon seit längerer Zeit der allgemeinen Zuschauerwartung, die vollgepumpt mit Doku-Bildern aus dem deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen, beim Schlagwort "Rumänien" sehnsüchtig auf miserabilistische Bilder von krebskranken Kindern in Bukarest warten. Im Dokumentarischen hat beispielsweise Christi Puiu mit "The death of Mr. Lazarescu" (2005) gezeigt, zu welch sarkastischem Realismus das rumänische Kino fähig ist. Netzer steht da eher auf der glatten, aber nicht minder dunklen Seite der filmischen Fiktion und seziert in klaren und fast diabolischen Bildern die rumänische Oberschicht, die sich Gerechtigkeit immer noch mit Geld in weißen Umschlägen erkaufen kann. Nachdem der 34-jährige Barbu betrunken ein Kind überfahren hat, macht sich seine Mutter Cornelia auf den Weg, um ein paar Zeugen zu bestechen, und so hoffentlich ihren unfähigen und lethargischen Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren. Sie verkörpert den Typus der hard boiled mother, die ihrem Sohn zwar Herta Müller in die Hand drückt, selbst aber lieber pragmatisch denkt und im post-sozialistischen Rumänien die korrupte Absenz staatlicher Gerechtigkeit für ihren Sohn taktisch zu nutzen versucht. Die "Zustände" sind für Netzer damit das unliebsame Resultat von "Unfällen" politisch wie privat. Ganz klassisch funktioniert hier diese Analogie der Systeme und ihrer Risse, die Familie als der Staat im Kleinen, in dem man immer erstmal herumredet und vertuscht, anstatt alles klar und transparent zu machen. Aus der visuellen Kühle der Bilder und der fast schematischen Härte der Inszenierung entströmt in "Mutter und Sohn" auch der böse Zynismus des Systems, die sklavische Einsicht in die Macht der Konstellation, die den Einzelnen dann doch nicht so ganz aus seiner Verantwortung entlässt. Nein, Mutti kann nicht alles regeln, was Barbu dann doch dazu zwingt sich seiner Tat und der Verantwortung zu stellen. Den Mutter-Sohn-Konflikt, die visuelle Strenge oder den psycho-dramatischen Plot kann man gern als Anbiederung an die cineastische Upper-Class des europäischen Autorenkinos betrachten oder sich wahlweise dem Ödipus-Komplex zuwenden. Das rumänische Kino, so scheint es mit diesem Film einmal wieder, ist schon ganz woanders. Einfach ansehen sollte man sich, wie hintergründig und facettenreich in "Mutter und Sohn" eine eindringliche aber undogmatische Fiktion der gesellschaftlichen Zustände entsteht, die aller verständigen Einschätzung über Europas jüngsten Mitgliedstaat im ästhetischen und politischen Sinne souverän überlegen ist. Nicolas Oxen /
Wertung: * * * *
(4 von 5)
Quelle der Fotos: X-Verleih Filmdaten Mutter und Sohn (Pozitia copilului) Rumänien 2013 Regie: Calin Peter Netzer; Darsteller: Luminita Gheorghiu (Cornelia Kerenes - die Mutter), Bogdan Dumitrache (Barbu - der Sohn), Natasa Raab (Olga), Florin Zamfirescu (Domnul Fagarasanu), Ilinca Goia (Carmen), Vlad Ivanov (Dinu Laurentiu) u.a.; Drehbuch: Razvan Radulescu, Calin Peter Netzer; Produktion: Parada Film, Hai Hui Entertainment; Produzenten: Calin Peter Netzer, Ada Solomon; Kamera: Andrei Butica; Schnitt: Dana Bunescu; Länge: 112,13 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der X Verleih AG; deutscher Kinostart: 23. Mai 2013 Goldener Bär der 63. Berlinale 2013
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