Dezember 2005 (Publikation der Rezension)
24. November 2005 (deutscher Kinostart des Films)

Mit Wackelkamera und perfekter Frisur in den Schützengraben

Merry Christmas

Verbrüderung Kriege enden nicht wegen Weihnachten, dem Fest der Liebe. Doch ruhen die Waffen häufig. Aus dem Ersten Weltkrieg sind sogar zahlreiche Verbrüderungen von verfeindeten Truppen überliefert. „Merry Christmas“ erzählt eine davon. Statt sich jedoch möglichst genau an den Fakten und der tatsächlichen Situation zu orientieren, lebt der Film nur von der schon bestehenden Story – die filmische Umsetzung hingegen ist fehlerhaft und teils verklärend.

Zu Beginn wird eine kriegsgegnerische Einstellung noch geschickt vermittelt. Schuljungen tragen in freundlich-heller Stimme auswendig gelernte Hasstiraden auf die Kriegsgegner vor. Der Widerspruch von verbal transportierter Gewalt einerseits und non- bzw. paraverbal vermittelter Unschuld und Friedfertigkeit andererseits lässt einen Ideenreichtum der Filmemacher erwarten, der sich über die volle Länge des Films erstreckt. Tatsächlich aber gibt es noch eine weitere einfallsreiche Szene, dann ist das kreative Pulver weitgehend verschossen: Zwei Dorfjungen erfahren in der Kirche vom Krieg. Sie freuen sich, dass endlich einmal etwas Aufregendes passiert und rennen hinaus, um sich vorzubereiten. Durch den Windzug erlöschen alle Kerzen in der Kirche, und der emporsteigende Rauch lässt schon an ausgebombte Häuser denken. Und an den berühmten Ausspruch des britischen Außenministers, Sir Edward Grey: „In diesem Moment gehen in Europa die Lichter aus. Wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“ Zu diesem Zeitpunkt, dem 3. August 1914, hatten deutsche Truppen bereits das neutrale Belgien überfallen.

Der Film spielt wenig später an der Westfront in Nordfrankreich. Dort liegen sich deutsche, schottische und französische Truppen gegenüber. Nach heftigem Gefecht vor Weihnachten steigen sie an Heiligabend aus den Schützengräben und feiern im Niemandsland gemeinsam. Es wird Fußball gespielt und Karten gedroschen.

Perfekt geschminkt im SchützengrabenDies alles ist authentisch. Doch in sehr vielen anderen Szenen entsteht der Eindruck, die Filmemacher hätten sich nicht genügend mit der Situation auseinandergesetzt. Dass eine Frau, eine berühmte Sängerin, im Schützengraben und später im Niemandsland Weihnachtslieder singt, ist sicherlich eine seltene Ausnahme, mag aber noch der Realität entsprechen. Dass sie allerdings stets perfekt geschminkt ist und ihr Haar sitzt als habe sie ihren Friseur gleich mitgebracht, ist unglaubwürdig. Auf dem Schlachtfeld schneit und stürmt es – doch hat die Maske dies nicht nur bei der Sängerin außer Acht gelassen. Es sieht kaum jemand auch nur ansatzweise durchgefroren aus. Wie die Soldaten sich in Wirklichkeit gefühlt haben müssen, ist auf erhaltenen Fotos aus dem Krieg nachvollziehbar – der Film macht es nicht deutlich - und verklärt es.

Die Filmemacher schaffen es sogar, eine Sex-Szene unterzubringen. Diese ist in der Geschichte ohnehin fehl am Platz, wirkt durch die Nahaufnahme jedoch besonders willkürlich eingestreut. Ob hier der Privatsender Sat.1, der sich an den Kosten des Films beteiligt hat, das Drehbuch für eine spätere Ausstrahlung im Fernsehen „optimiert“ hat?

Der Film kann nicht für sich beanspruchen, ein historisch besonders wertvolles Dokument zu sein. Eine Wackelkamera allein reicht dazu nicht aus. Statt dessen entsteht der Eindruck, man habe eine Nähe zur Realität schaffen wollen (Wackelkamera), aber mit möglichst geringem Aufwand (Maske).

Die Leistung des Films ist es, die Ereignisse zu Weihnachten im Ersten Weltkrieg einer breiteren Masse bewusst zu machen bzw. ins Gedächtnis zu rufen. Obwohl die Geschichte eigentlich notwendigerweise zu einer emotionalen Vereinnahmung des Zuschauers führen müsste, werden Gefühle durch die mangelhafte Umsetzung auf Distanz gehalten. Und dies geschieht sicher nicht zwecks einer intendierten Verfremdung im Sinne Brechts.

 
Tobias Vetter / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Senator


Filmdaten

Merry Christmas

Deutschland/Frankreich/Großbritannien/Belgien/Rumänien 2005; Regie und Drehbuch: Christian Carion;
Darsteller: Diane Kruger ("Troja"; Anna Sörensen), Benno Fürmann (Nikolaus Sprink), Guillaume Canet ("The Beach"; Lieutenant Audebert), Gary Lewis (Palmer), Dany Boon (Ponchel), Daniel Brühl (Horstmayer), Alex Ferns (Gordon), Suzanne Flon, Christopher Fulford (Major), Robin Laing (William), Bernard Le Coq (General), Ian Richardson (Bischof), Marc Robert (Guimond), Steven Robertson (Jonathan), Michel Serrault, Friedemann Thiele (Karl), Johannes Richard Voelkel (Gunther), Frank Witter (Jörg) u.a.; Produktion: Christophe Rossignon; Ausführende Produktion: Philippe Boeffard, Genevieve Lemal, Alexandre Lippens, Marielle Duigou; Co-Produktion: Andrei Boncea, Christopher Borgmann, Bertrand Faivre, Soledad Gatti-Pascual, Benjamin Herrmann, Kate Ogborn, Patrick Quinet; Kamera: Walther van den Ende; Musik: Philippe Rombi; Länge: 115 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Senator Film Verleih GmbH




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Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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