21.09.2009
Existenz auf schmalem Grat

Le silence de Lorna
- Lornas Schweigen


Le silence de Lorna - Lornas Schweigen: Arta DobroshiLorna schweigt, weil alles gesagt ist. Die Eröffnung einer Snackbar ist ihr kleiner Traum vom gemeinsamen Glück mit ihrem Freund Sokol. Aber der Weg zu ihrem Ziel ist festgelegt. Durch die Scheinehe mit dem heroinsüchtigen Claudy (Jérémie Renier) bekommt die Albanerin Lorna (Arta Dobroshi) die belgische Staatsbürgerschaft: ihr erster Schritt, der sie zum Spielstein im Szenario der skrupellosen Menschenhändler macht, das fortan ihre Existenz bestimmen wird. Lorna kämpft nicht. Sie macht stattdessen ihr Leben zum ständigen Tausch. Harte Arbeit in der Wäscherei für etwas Geld und kurze sehnsüchtige Umarmungen auf dem dunklen Parkplatz, bevor Sokol (Alban Ukaj) wieder zur Schwarzarbeit über die Grenze aufbricht. Sie muss durchhalten zusammen mit dem zitternden, klammernden Claudy, der von seiner Sucht loszukommen versucht. Und sie muss herhalten für die Heiratsgeschäfte ihres Geldgebers Fabio (Fabrizio Rongione). Für eine zweite lukrative Scheinehe mit einem wohlhabenden Russen soll eine Überdosis den Junkie Claudy von ihrer Seite schaffen. Lorna beginnt zu kämpfen.

Das 2008 in Cannes ausgezeichnete Drehbuch ist das Herzstück von "Le silence de Lorna - Lornas Schweigen" von Jean-Luc und Pierre Dardenne. Mit zwei Goldenen Palmen bei den Filmfestspielen in Cannes für "Rosetta" (1999) und "L'Enfant" (2005) haben sie den unverwechselbaren Stil ihres modernen Sozialkinos bereits behaupten können, und wieder einmal ist Lüttich, die Heimatstadt der Brüder, der Handlungsort ihres Films. Billiglohn, Menschenhandel, Migration – scheinbar bekannte Abziehbilder scharfkantiger Gesellschaftsthemen durchdringt dieser Film. Wir sehen, wie Lorna schwitzt, duscht, sich auszieht und erschöpft zu schlafen versucht, hören, wie Claudy vor ihrer Tür jammert. Sie verletzt sich selbst, um Claudy durch eine legale Scheidung zu retten, und zieht sich aus, damit er seinem Dealer nicht die Tür öffnet. Komplizin und Retterin zugleich, bleibt Lorna zwischen Mitleid und Pragmatik gespalten. Ein schweigender Charakter, der nicht verstanden zu werden braucht.

Le silence de Lorna - Lornas Schweigen: Jérémie Renier, Arta DobroshiDie Körperlichkeit und Nähe der Schauspieler schafft eine Intensität, die anrührende Musik und dramatische Effekte überflüssig macht. Nichts ist erschreckender als bloße Materialität. Der filmische Purismus der Dardennes vertraut ganz auf das Bild und die Grundwerkzeuge filmischer Narration. Das Kino wird zur Maschine, die gewohnte "Realität" diesmal neu produziert. Einstellung für Einstellung entwickelt sich Lornas Schicksal mit einer beunruhigenden Regelmäßigkeit, die auf den nächsten Zwischenfall warten lässt. Doch wo der nächste Schritt unausweichlich scheint, drängen sich sehr distanzierte wie nahe Bilder auf. Mit dem anteilnahmslosen Blick der Kamera folgen wir Lornas Weg durch die dunklen Straßen zu Sokol, ins Krankenhaus zu Claudy und auf die Taxifahrten mit Fabio. Drei Männer, die Lorna braucht, von denen sie benutzt wird. Lornas Hände zählen unsicher Geld, tippen nervös eine SMS. In der Einfachheit ihrer Montage erinnern diese Bilder mehr an die schlichte Kraft der Filme Robert Bressons als an das Handkamerakino des Dogma 95. Nicht Experimentalität, sondern gute Handarbeit einer neuen kinematographischen Sachlichkeit lässt in diesem Film mit langen Sequenzen und kraftvollen Einstellungen das Kino zu sich selbst zurückkehren, um über sich hinaus zu gehen.

Mit "Le silence de Lorna - Lornas Schweigen" beweisen die Dardennes die stille Kraft des Kinos und schaffen frei von dokumentarisierter Sozialdramatik und moralinsaurem Realismus eine kraftvolle Fiktion, die uns die "Realität" bedrückend einfach vor Augen treten lässt.  

Nicolas Oxen  / Wertung:  * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos:  deutsche Film-Homepage

 
Filmdaten 
 
Le silence de Lorna - Lornas Schweigen (Le silence de Lorna) 
 
Belgien / Frankreich / Italien / Deutschland 2008
Regie & Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne;
Darsteller: Arta Dobroshi (Lorna), Jérémie Renier (Claudy Moreau), Fabrizio Rongione (Fabio), Alban Ukaj (Sokol), Morgan Marinne (Spirou), Olivier Gourmet (Inspektor), Anton Yakovlev (Andrei), Grigori Manukov (Kostia), Mireille Bailly (Monique Sobel) u.a.; Produktion: Les films du fleuve; Produzenten: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Denis Freyd; Kamera: Alain Marcoen; Schnitt: Marie-Hélène Dozo; Länge: 105 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Piffl Medien; deutscher Kinostart: 9. Oktober 2008



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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