22.08.2011
Hafen der Seele

Le Havre


Film Le Havre von Regisseur Aki Kaurismäki: Idrissa (Blondin Miguel) und Marcel Marx (André Wilms) "Wunder geschehen", sagt der Arzt der alten Frau des Schuhputzers. Früher war dieser der bekannte Autor Marcel Marx (André Wilms), nun ist er Marcel Marx, der Schuhputzer und die mädchenhafte Patientin seine geliebte Frau. Arletty (Kati Outinen) glaubt nicht mehr an Wunder: "Nicht in meinem Viertel." Eben dort vollbringt Marcel mit eigenen Händen eines, als der afrikanische Flüchtling Idrissa (Blondin Miguel) bei ihm Unterschlupf sucht. Beschirmt von der Hand des ermittelnden Inspektors Monet (Jean-Pierre Darroussin), Marcels Nachbarin Yvette (Evelyne Didi), seinem Berufskollegen Chang Chang (Quoc-Dung Nguyen) und der Hündin Laika (Laika) scheint das Entkommen des Jungen zu seiner Mutter nach London zu gelingen. Doch damit das Surreale triumphiert, muss Marcel der Wirklichkeit seiner selbst und des Lebens ins Gesicht sehen.

"Quo vadis?", fragt Marcel Idrissa und gleich seinem biblischen Pendant richtet dessen Erwiderung die Frage sinnbildlich an ihn. Wohin geht der alte Mann, der im Bewusstsein biografischer Jugend spricht, wenn er in Idrissas Großvater einen fast Gleichaltrigen, durch ein hartes Leben anders gealterten Mann vor sich sieht? Nirgendwohin, dies antwortet Aki Kaurismäki mit charakteristischer pittoresker Schlichtheit. Zu in Retro-Ambiente erstarrten Treffs und kauzigen Anwohnern folgt das lakonische Clochard-Cabaret dem eigensinnigen Helden, der nicht erkennt, dass er von dem abdriftet, was sein Leben lebenswert macht. Im Tod, der schon lange in den Körper seiner Frau eingeschrieben ist, offenbart sich ihm sein bescheidenes Glück und das anderer. Nicht fremder Leute Schuhe muss er putzen, sondern die eigenen, und etwas bewegen. Sich selbst zum Großvater des Jungen nach Calais und Idrissa nach London.

Film Le Havre von Regisseur Aki Kaurismäki: Marcel Marx (André Wilms) und Arletty (Kati Outinen) Eine idealisierte Tristesse voll Hafenkneipen, Seemanns-Spelunken und kleiner Boulangerien ist die Hafenstadt, in der die Hauptfigur vor Anker gegangen ist. Jedes Lokal wird von der Bardame geführt, die hinter der Theke den Stammkunden einschenkt, und in jedem der kleinen Läden sind die Verkäufer auch die Inhaber, die selbst entscheiden, dass Selbstbedienung nicht Stehlen sondern stillschweigend Anschreiben lassen bedeutet. Das stürmische Leben in der Künstlerszene, dessen er sich gegenüber Idrissa erinnert, hat der einstige Schriftsteller Marcel eingetauscht gegen eines inmitten des verbündeten Proletariats, von dem sein Namenspatron träumte. Bekehrt von der Liebe seiner engelsgleichen Frau Arletty, deren Aufopferung Marcel als Selbstverständlichkeit nimmt, ist der Bohemien nicht zum Intellektuellen, sondern zum Clochard geworden. "Ausländer sehen Clochards in einem etwas romantischeren Licht als wir Franzosen", weiß eine Bekannte Marcels, in deren Worten der finnische Regisseur die menschlichen Makel seiner eigenen filmischen Perspektive bekennt.

Film Le Havre von Regisseur Aki Kaurismäki: Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin) Das subtile Minenspiel seiner Stammdarsteller und deren pantomimische Gestik scheinen eigens für die stilisierten Kulissen erfunden und sind es womöglich. Nur das bewusst Theatralische kann die allegorische Schwere auffangen, mit der sich Kaurismäkis sinnbildlich überalterte Welt dreht. Das Junge muss darin gleich einem verfolgten Fremdkörper beschützt werden und Wunder werden wahr, wenn Zusammenhalt und Zuversicht Bürokratie und Fatalismus überdauern. Kaum hat die namenlose Krankheit ihm Arletty entrissen, übt sich der Umsorgte als Umsorgender des Jungen, der gleich einem als Bettler verkleideter Heiliger Marcels Haus aufsucht. Nachdem er Marcels Seele geheilt hat, heilt Idrissas Genesungswunsch Arlettys Leib und auch ein verdorrter Baum kann wieder Blüten tragen, wenn nur ein Senfsamen in ihm keimt. Wenn auch mit fast biblischer Symbolik aufgeführt, ist die Erlösung mehr persönlicher als religiöser Natur. Die ambitionierten Handlungsmotive sind nur Staffage für die fabulierte Seelenreise eines der kuriosen Kaurismäki-Typen.

Es gibt nichts Gutes außer man tut es. Mit so viel Menschlichkeit und ebenso viel Einfalt inszeniert ist "Le Havre". Was der lakonischen Parabel den Charme des Skurrilen verleiht, ist zugleich ihre cineastische Crux. Tief in seinem dramaturgischen Herzen ist das Filmtheater eine schöne Lüge, die man glauben möchte, aber nicht glauben kann.  

Lida Bach / Wertung: * * * (3 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Sputnik Oy / Pandora Film / Fotografin: Marja-Leena Hukkanen

 
Filmdaten 
 
Le Havre (Le Havre) 
 
Finnland / Frankreich / Deutschland 2011
Regie & Drehbuch: Aki Kaurismäki;
Darsteller: André Wilms (Marcel Marx), Kati Outinen (Arletty), Jean-Pierre Darroussin (Monet), Blondin Miguel (Idrissa), Elina Salo (Claire), Evelyne Didi (Yvette), Quoc-Dung Nguyen (Chang), Jean-Pierre Léaud u.a.;
Produzent: Aki Kaurismäki; Co-Produzenten: Reinhard Brundig, Fabienne Vonier; Kamera: Timo Salminen; Schnitt: Timo Linnasalo;

Länge: 093,02 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; ein Film im Verleih der Pandora Film GmbH & Co. Verleih KG; deutscher Kinostart: 8. September 2011



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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