12.02.2000

"Leben, das nach Veränderung ruft": Eine vollkommene Zivilisationskritik

Koyaanisqatsi

Am Anfang war die Natur. Die ruhige Kamera zeigt unendliche Weiten. Doch die Kamerafahrten werden immer schneller, und schließlich ist man am Übel angelangt: An der Zivilisation. Ein riesieger Lastwagen transportiert die Natur (symbolisch dargestellt durch Erde) ab, und von nun an sieht man nur noch Kultur im Sinne des nicht von Menschen geschaffenen. Die Schluchten bestehen nicht mehr aus bewaldeten Berghängen und einem Fluß in der Tiefe, sondern aus riesigen Wolkenkratzern, und unten rauscht der Verkehr.

Die Filmgeschwindigkeit nimmt stetig zu, immer schneller rasen die Autos auf den Betonpisten, tauchen Menschen wimmelnd wie Ameisen über Rolltreppen in U-Bahn-Schächte ab. Schnell hat die Geschwindigkeit ein schwindelerrendes Ausmaß erreicht. Eine Ahnung beschleicht den Zuschauer: Die Ahnung der Kathastrophe. Unausweichlich steuert der Mensch auf das Ende des Fortschritts- und Zivilisationswahns zu, das symbolisch angedeutet wird durch die Zerstörung des Superlativs der Technik und der Zivilisation: der Rakete. Auf andere Planeten wird der Mensch sein Verhalten nicht übertragen können.

Technisch ist der Film perfekt. Kein einziges Wort wird im Film gesprochen. Der Ton ist auf die Musik von Philip Glass reduziert, die jedoch den Zuschauer die gezeigten Bilder in ihrer Aussageabsicht um ein Vielfaches stärker empfinden läßt.

Es gibt zwei mögliche Arten der Rezeption des Films. Die erste ist die Verdrängung. Der Zuschauer erkennt zwar die Zivilisationskritik, hat aber vor dem Ist-Zustand resigniert und sich so sehr angepaßt, daß er die In-Frage-Stellung beiseite schiebt und sich wieder kurzweiligen, ablenkenden Dingen zugibt. Dadurch entscheidet er sich für die bisherige Welt.

Die zweite Möglichkeit der Rezeption ist fatal: Der Zuschauer erkennt die Kritik, denkt darüber nach. Dieser Prozeß kann sich Wochen hinziehen, in denen er betrübt ist, denn eins ist klar: Eine Verlangsamung und damit Rettung der Zivilisation, vorausgegriffen gesagt vielleicht auch die Rettung der Menschheit, scheint nicht möglich zu sein. Aussteigen aus der Zivilisation ist zwecklos. Denn wollte jeder aussteigen, wäre dies nicht möglich, da die Erde so viele geheime Ecken nicht bietet. Und steigt nur ein einzelner aus, so steuert die übrige Zivilisation dennoch in den Abgrund.

Interessant ist auch die Rolle des Individuums: Der Film vermittelt eine düstere Perspektive. Der einzelne Erdbewohner ist nichts mehr wert, zumal er sowieso meist in der Masse auftritt. Mal fährt die Kamera dicht an einzelne Personen heran, doch diese sind entweder vollkommen mit der Zivilisation verwachsen oder aber so verstört durch die an ihr vorbeirasenden Menschenmassen, daß klar wird: Es gibt keinen Ausweg.

Hat jemals ein Film das Potential gehabt, die Menschheit in ihrer gesamten Breite dermaßen zu erschüttern? Der "experimentelle Dokumentarfilm" zeigt uns selbst, und wir erkennen: Alles, worauf wir stolz waren, vor allem auf technische Glanzleistungen und auf unser Wissen, mit dem wir den technischen Fortschritt ermöglichten, all das ist nichts wert. Die wahre Erfüllung liegt in der Natur, doch für eine Besinnung auf die Ursprünge ist es zu spät.  

Tobias Vetter / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Koyaanisqatsi


USA 1982
Regie: Godfrey Reggio; Drehbuch: Ron Fricke, Michael Hoenig, Godfrey Reggio, Alton Walpole; Produktion: Godfrey Reggio; Ausführende Produktion:Francis Ford Coppola; Kamera: Ron Fricke; Schnitt: Ron Fricke, Alton Walpole; Musik: Philip Glass;

Länge: 86 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; BRD-Kinostart: 11. November 1983

Auszeichnungen:
Viele meist kleinere Preise, nominiert für den Goldenen Bär 1983



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