25.05.2015
Erziehungsheim ohne Erziehung, aber mit rohen Sitten

Freistatt


Freistatt: Louis Hofmann 1968. Kurt Georg Kiesinger ist noch Bundeskanzler, wie man im Film Wahlplakaten für Willy Brandt entnehmen kann. Es ist die Zeit der Studentenunruhen. Die Jugend protestiert gegen die NS-Vergangenheit der Eltern. In "Freistatt", dem Spielfilmdebüt von Regisseur Marc Brummund, merkt der Zuschauer davon nichts. Das Politische bleibt hier im Hintergrund und bestimmt doch die Geschichte, die "Freistatt" erzählt. Der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann, er spielte die Titelfigur in "Tom Sawyer" 2011) lebt nahe Osnabrück bei der Mutter und dem Stiefvater, mit dem er sich ständig anlegt. Bis dem Mann, den der Zuschauer als herrschsüchtig erlebt, die Renitenz des Heranwachsenden zu viel wird: Wolfgang muss in ein Heim, die Diakonie Freistatt. In dem mitten im Moor bei Diepholz fernab der Zivilisation gelegenen kirchlichen Erziehungscamp macht Wolfgang die Hölle durch. Das Jugenddrama basiert auf wahren Ereignissen.

Verblasste Aufnahmen, wie man sie aus Super-8-Videos der Zeit kennt, bestimmen den Film. Nicht nur dadurch fühlt sich der Zuschauer sehr gut in die Vergangenheit der auslaufenden 1960er Jahre versetzt. Auch die Strenge der Erwachsenen und die Rebellion von Wolfgang erinnern an die Ära, in der sich die Jugend mit der sexuellen Revolution von aufoktroyierten Zwängen befreite. Doch davon wird Wolfgang die nächsten Jahre nichts mitbekommen; im Gegenteil. In Freistatt erlebt er das Grauen pur. In dem sogenannten Fürsorgeheim gibt es keine schulische Bildung, sondern täglich harte, nicht entlohnte Arbeit als Torfstecher. Die Aufseher Hausvater Brockmann und Bruder Wilde (Alexander Held, Stephan Grossmann) machen mit den Jungs, was sie wollen. Besonders mit Wolfgang. Schläge und extreme Strafen für geringfügige Vergehen sind an der Tagesordnung. Irgendwann wird Wolfgang sich nicht mehr wehren, weil das keinen Sinn hat, da sogar seine Mutter ihn verstößt. Der Junge wird sich anpassen.

Freistatt: Stephan Grossmann, Louis Hofmann Nominiert für den Max Ophüls Preis 2015 beim gleichnamigen Filmfestival in Saarbrücken, erhielt "Freistatt" die Preise der Jugendjury und des Publikums. Bei dem Filmfestival ist es üblich, dass nach der Filmvorstellung das Filmteam vor die Leinwand tritt, um Fragen zu beantworten, Fragen des Moderators und aus dem Publikum. Da "Freistatt" die Zuschauer verstörte, dauerte die Diskussion der Filmleute mit den Zuschauern viel länger als sonst, etwa 50 Minuten, und es gab viel mehr Fragen, als normalerweise. Mehr als ein Dutzend Fragen wurde gestellt, vor allem an Wolfgang Rosenkötter, Vorbild für die Hauptfigur des Films. Rosenkötter berichtete, er versuchte anders als im Film nicht mit Gegengewalt zu antworten, sondern wegzulaufen, was stets misslang. Das umliegende Moor machte eine Flucht unmöglich. Die Bauern der Umgebung halfen, auch wegen einer Belohnung, stets, die Flüchtigen zu fassen. Diese galten als Kriminelle, die man wieder nach Freistatt bringen müsse. Eine der Fragen in Saarbrücken betraf die Bestrafung der Täter heute. Wolfgang Rosenkötter entgegnete, dafür wäre es zu spät: Wer von den Freistatt- und anderen Diakonie-Aufsehern überhaupt noch lebt, für den gelte die Verjährung. Regisseur Marc Brummund erklärte, er habe ein Detail weggelassen: Der Chef des Hauses Freistatt war zuvor Gestapo-Mann gewesen und präsentierte sich in Freistatt gerne gegenüber den Untergebenen in seiner alten Uniform. Dieses Detail hätte zu dick aufgetragen gewirkt, als Zuschauer erkennt man auch so bei den Aufsehern deren alte Mentalität.

Eine Filmszene ist allerdings zu dick aufgetragen: Nach einem Fluchtversuch wird Wolfgang lebendig begraben. Eine Szene, bei der das Publikum das Ende des Films vermutet; aber dies ist es nicht, Wolfgang wird von Hausvater Brockmann "gerettet". Es war eine "erzieherische" Maßnahme. Der pubertierende Wolfgang hatte sich zuvor Brockmanns Tochter genähert, was der Vater mit einem psychischen und physischen Rachefeldzug beantwortet. Trotz der Szene der Scheinbeerdigung ist "Freistatt" ein starkes Drama, das nicht loslässt. Marc Brummund führt dem Zuschauer den Sadismus der Diakonie-Aufseher deutlich vor.

Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Drehbuchautorin Nicole Armbruster und Regisseur Brummund sich mehr an die Erinnerungen des realen Wolfgang Rosenkötter gehalten hätten. Dieser war nicht so sehr ein Rebell, als vielmehr ein ständig Flüchtender. Armbruster und Brummund sind zu sehr dem Zeitgeist der Ära verpflichtet, in der die Jugend revoltierte. Der Film-Wolfgang schlägt Bruder Wilde ein Auge aus. Ein Ereignis, das es so sicher nicht gegeben hat. Armbruster und Brummund fühlen sich zu sehr Action-Handlungen verpflichtet.

Freistatt: Alexander Held Die realistische Darstellung der Aufseher wäre früher nicht möglich gewesen; der Zeitgeist hat sich geändert. Kurz vor dem Kinostart von "Freistatt" erhielten Beate und Serge Klarsfeld das Bundesverdienstkreuz als langjährige Ermittler von NS-Verbrechern. Erst im Jahr 2015 ist dies plötzlich möglich geworden. Beate Klarsfeld hatte 1968, in dem Jahr, in dem "Freistatt" spielt, Bundeskanzler Kiesinger wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft geohrfeigt. Lange Jahre blockierten die Behörden vermutlich eine Verleihung des Verdienstkreuzes. Im Jahr 2015 denkt das amtliche Deutschland endlich anders über die Zeit des Nationalsozialismus und die Täter und Mitläufer, die in der Nachkriegszeit wieder Karriere machten.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * (3 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Salzgeber & Co. Medien GmbH

 
Filmdaten 
 
Freistatt  
 
Deutschland 2015
Regie: Marc Brummund;
Darsteller: Louis Hofmann (Wolfgang Rosenkötter), Alexander Held (Hausvater Brockmann), Stephan Grossmann (Bruder Wilde), Katharina Lorenz (Ingrid), Max Riemelt (Bruder Krapp), Uwe Bohm (Heinz), Enno Trebs (Bernd), Langston Uibel (Anton), Anna Bullard (Angelika Brockmann), Hans-Peter Korff (Pastor Abeln), Megan Gay (Frau vom Jugendamt) u.a.;
Drehbuch: Nicole Armbruster; Produktion: Zum Goldenen Lamm Filmproduktion; Produzenten: Rüdiger Heinze, Stefan Sporbert; Kamera: Judith Kaufmann; Musik: Anne Nikitin; Schnitt: Hans Funck (+2014);

Länge: 108,23 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Salzgeber & Co. Medien GmbH; deutscher Kinostart: 25. Juni 2015



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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