Januar 2000

Ekel 



Großaufnahme eines Auges, unterlegt mit dumpfen unheilverkündenden Trommelschlägen.
Es erinnert an den fünf Jahre älteren "Psycho", in dem Hitchcock nach dem berühmten Duschenmord die Kamera auf das tote Auge des Opfers richtet und davon ausgehend langsam das Gesicht der Toten und dann den Tatort zeigt.

Das unruhig umhersuchende Auge in "Ekel" gehört zu einer jungen Frau, Carol, die gezeigt wird, wie sie auf der Arbeit vor sich hin träumt. Sie wird von Anfang an als jemand dargestellt, der nicht ganz da ist, abwesend, so als sei sie nicht in der Wirklichkeit angekommen. Sehr überzeugend und eindrucksvoll wird diese Hauptfigur von Catherine Deneuve gespielt, die mit dieser Rolle international bekannt wurde. Nur durch wenige Gesten wird ein rundes, komplexes Bild von einem gestörten Charakter entworfen, der sich zum Ende des Films gar nicht mehr in der Realität zurechtfinden kann.

Zuerst erleben wir Carol bei ihrer Tätigkeit als Maniküre - noch funktioniert sie, auch wenn sich ihre Arbeitskolleginnen manchmal über ihre Art wundern. Auch Carols Schwester Hélène, bei der sie lebt, weiß um ihre Eigenarten, aber macht sich nicht weiter ernsthafte Sorgen um sie. Sie ist ein ganz anderer Typ als Carol: lebensfroh, unbekümmert, bestimmt, selbstbewußt. Sie weiß um ihre Attraktivität, und sie hat einen Geliebten. Dieser macht sich so seine Gedanken über Carol, nennt sie "Dornröschen" und "ein bißchen überdreht". Als er seiner Geliebten sagt, daß Carol "mal zum Arzt gehen sollte" reagiert sie empfindlich darauf, doch sie sprechen nicht weiter davon. Hélène tut es damit ab, daß ihre Schwester eben eine "Mimose" sei. Mit dieser Feststellung liegt sie nicht ganz falsch: Carol ist empfindsam und weicht Berührungen aus; sie zuckt zusammen, wenn ihr jemand zu nahe kommt. Doch ihre Probleme gehen noch viel tiefer.

Sie zieht sich immer weiter zurück, gerät zunehmend in die Isolation. Sie ist nicht an Männerbekanntschaften interessiert, noch scheint sie überhaupt Interesse an irgend etwas zu haben. Mit ihrer abweisenden Art stößt sie einen Verehrer vor den Kopf, der nicht verstehen kann, was mit ihr los ist. Seine Annäherungsversuche beängstigen sie. Mit sich allein weiß Carol auch nichts anzufangen, im Bett liegend starrt sie an die Zimmerdecke oder sieht zum Fenster hinaus auf das gegenüberliegende Kloster. Die Wohnung ist für sie gleichzeitig Zuflucht und Gefängnis. Dort wägt sie sich sicher vor der feindlichen Außenwelt, doch der Geliebte ihrer Schwester dringt als störendes Element in ihre kleine Welt ein. Sie ekelt sich vor seiner Zahnbürste in ihrem Glas, fühlt sich allein gelassen, wenn Hélène mit ihm ausgeht und kann es nicht ertragen zuhören zu müssen, wenn die beiden nebenan Sex haben.

Die Situation eskaliert, als das Liebespaar für ein bis zwei Wochen verreist und Carol allein auskommen muß. Sie leidet zunehmend unter Angstzuständen und Halluzinationen. Irgendwann geht sie nicht mehr zur Arbeit.

In der verdunkelten Wohnung dämmert sie vor sich hin. Ihr Verehrer Colin bricht besorgt die Wohnungstür auf, als er nichts von ihr hört. Sie fühlt sich durch ihn bedroht und erschlägt ihn. Bevor ihre Schwester zurückkehrt und sie wie paralysiert auffindet, begeht Carol noch einen Mord an dem zudringlich werdenden Vermieter.

Übrig bleibt die Frage nach dem "warum". Polanski gibt uns dreimal den Verweis auf die Vorgeschichte, indem er uns ein altes Familienfoto aus Carols Kindheit zeigt. Auch dort hat sie den abwesenden Blick. Doch Erklärungen bekommen wir nicht. Daß viele Interpretationsmöglichkeiten offen gehalten werden, ist auch eine der Stärken des Films. Eine Interpretation wäre, daß Carol eine gewisse Veranlagung hat, die durch eine gefilterte Wahrnehmung der Umgebung verstärkt wird. Wir als Zuschauer sehen, wie sich Colin sehr geduldig um Carol bemüht, doch sie fühlt sich nur von ihm bedrängt und mißtraut ihm - zuvor hatte sie ja noch von ihrer Arbeitskollegin gehört wie "gemein" Männer seien. Eine andere Möglichkeit wäre, daß sie in ihrer Kindheit ein Trauma erlebt hat, z.B. sexuell mißbraucht wurde. Dies könnte ihr gestörtes Verhältnis zu Männern und zu allem Körperlichen erklären.

"Ekel" ist wie eine psychologische Studie, die Kamera zeigt unbarmherzig jede Regung in Carols Gesicht und informiert uns jederzeit über ihren fortschreitenden seelischen Verfall.

Interessant ist, wieviel Sympathie Polanski mit seiner Hauptfigur hat: Sie ist nicht einfach eine "männermordende Irre", sondern mehr ein tragischer Charakter wie etwa eine der zerbrechlichen Heldinnen bei Tennessee Williams. Deneuve spielt Carol sehr in sich gekehrt, still und wie erstarrt, aber auch mit einer nervösen Motorik, wenn sie versucht etwas für uns Unsichtbares wegzuwischen. Sie hält mitten in Bewegungen inne und ist nicht ansprechbar. In der deutschen Synchronisation wurde ihr starker französischer Akzent übernommen, die Stimme klingt träge, manchmal weinerlich. Oft wirkt sie wie ein kleines Kind, unschuldig, unwissend und emotional von der Schwester abhängig, allein nicht überlebensfähig.

Ihre Wahnvorstellungen erlebt der Zuschauer aus Carols Sicht, als geschähen sie in echt. Es ist nicht immer eindeutig zu unterscheiden, was Carol nur glaubt zu sehen oder was wirklich passiert. Auf einmal sind Männer in ihrem Zimmer, Räume verändern sich, Wände reißen auf und beginnen ein Eigenleben zu entwickeln.

Schockmomente sind perfekt inszeniert und werden sorgfältig vorbereitet. Vorherrschend sind lange Kameraeinstellungen und Großaufnahmen der Gesichter.

Die Atmosphäre ist bedrückend und beklemmend: Carol ist von Tod und Verwesung in Form eines toten Kaninchens und der Leichen umgeben. Es gibt lange Momente der absoluten Stille ähnlich wie bei Bergman, und ab der zweiten Hälfte des Films spricht Carol fast kein Wort mehr. Musik wird im Film bewußt sparsam und um so effektiver eingesetzt: Im Moment emotionaler Erregung setzt plötzlich laute Jazzmusik und Trommelwirbel ein.

"Ekel" war Roman Polanskis zweiter Film im Ausland und ein großer künstlerischer Erfolg. Polanski entwickelte in diesem Werk Ideen, die er über 10 Jahre später in seinem lange unterschätzten Film "Der Mieter" wieder aufgriff. Thema und Stil dieser Filme gelten als typisch für Polanski, obwohl er auch erfolgreich und gelungen Komödien bzw. Tragikkomödien drehte - wie z.B. sein Klassiker "Tanz der Vampire" (1967) oder auch der weniger bekannte "Wenn Katelbach kommt" (1966).

Der Film endet wie er begann mit der Großaufnahme eines Auges, so schließt sich der Kreis. 

Jessica Ridders / Wertung: * * * * * (5 von 5) 
 


 
Filmdaten 
 
Ekel (Repulsion) 

England 1965
Regie: Roman Polanski;
Darsteller: Catherine Deneuve (Carol), Ian Hendry (Michael), John Fraser (Colin), Yvonne Furneaux (Hélène) u.a.; Drehbuch: Roman Polanski, Gérard Brach; Kamera: Gilbert Taylor;

Länge: 105 Minuten; Schwarz-Weiß



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