04.02.2016

Die Schüler der Madame Anne


Das Grundschema ist bekannt aus zahlreichen Schulfilmen, von "Der Pauker" über "Der Club der toten Dichter" bis zu "Fack ju Göhte": Eine schwierige Klasse bekommt den richtigen (guten) Lehrer (bzw. Lehrerin), wird gezähmt und schwingt sich zu ungeahnten Leistungen auf. Aber wenn das Ganze gut gemacht ist, sieht man es immer wieder gern. So auch hier. Die Rede ist von dem Film "Die Schüler der Madame Anne" aus dem Jahre 2014.

Die Schüler der Madame AnneDas Gymnasium Léon Blum im Pariser Vorort Créteil ist eine Multi-Kulti-Schule, die in einem sozialen Brennpunkt liegt. Vom Äußeren her wirkt sie recht ansprechend, Beschädigungen und Graffiti sind kaum sichtbar. Dafür zeigen sich aber Probleme im Unterricht, z.B. in der Klasse 10, deren Klassenlehrerin Anne Gueguen heißt (Ariane Ascaride). Lust aufs Abi hat hier kaum jemand, die Schülerinnen und Schüler haben während des Unterrichts den Kopfhörer auf, rennen durch den Raum, beleidigen sich, entfachen Rempeleien. Die meisten sind, wie es neuerdings beschwichtigend genannt wird, verhaltensoriginell. Doch Madame Gueguen, die Geschichte unterrichtet, lässt sich nicht einschüchtern. Sie untersagt Handys, Kappentragen und Kaugummikauen, sorgt ruhig und konsequent für einen einigermaßen vernünftigen Ablauf der Stunden und versucht den Schülern klarzumachen, dass es jenseits der Schule eine Welt gibt, in der Kenntnisse und Leistung gefragt sind. Und dass die Klasse kein verlorener Haufen ohne Zukunft ist. Um die Schüler in besonderer Weise zu motivieren, meldet sie sie bei einem renommierten Projekt-Wettbewerb an, der den Titel trägt: Kinder und Erwachsene im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Der Schulleiter ist keineswegs begeistert, er äußert Bedenken und meint, dass gerade diese weit zurückliegende Klasse nicht noch mit zusätzlicher Arbeit belastet werden sollte. Doch Madame Gueguen gibt nicht nach und beginnt das Projekt. Nach anfänglichem Zögern machen fast alle mit. "Ihr dürft das Thema nicht wie Schüler anschauen", sagt Madame Gueguen, "ihr müsst einfach als Kinder darüber reden. Jeder mit seiner persönlichen Art, offen und ehrlich. Dass ihr das könnt, da bin ich mir sicher." Die Jungen und Mädchen opfern ihre Freizeit, arbeiten in Gruppen, durchforschen Bibliotheken und das Internet, stellen Bilder und Texte zusammen, besuchen das "Mémorial de la Shoa", die zentrale Holocaust-Gedenkstätte in Paris, hören den Augenzeugenbericht des (realen) KZ-Überlebenden Léon Zyguel – und spätestens nach diesem bewegenden Vortrag ist es vorbei mit Späßen und zynischen Witzen, die manchmal während der Gruppenarbeit gerissen wurden. Einigen Mädchen laufen Tränen über das Gesicht.

Das Ende ahnt man schon: Das Projekt erntet den 1. Preis, und die vorletzte Szene zeigt die Preisverleihung in Paris, wo alle überglücklich feiern.

Die Schüler der Madame Anne Was ist die Message dieses Films? Es soll mal wieder gezeigt werden, dass an den heutigen Schulen (zum Glück) eben nicht nur alles schief läuft, dass es durchaus Lehrer(innen) gibt, die die Schüler begeistern können, und dass gemeinsame Arbeit sich lohnt und glücklich macht. Und dass auf diese Weise auch Integration funktioniert. Das lässt Gutes hoffen. Der Film blendet dennoch Konflikte nicht aus (z.B. zwischen den christlichen und muslimischen Schülern). Als ein Junge mit arabischen Wurzeln meint, der Holocaust sei im Grunde dasselbe wie die Kriege Israels gegen die Palästinenser, erklärt ihm Madame Gueguen eindeutig den Unterschied: Israel begeht keinen Genozid, Hitler wollte ein ganzes Volk ausrotten. Die Jugendlichen haben durch diese ganz besondere "Geschichtslektion" – die sie selbständig mitgestaltet haben – eine Menge gelernt und eine neue Weltsicht bekommen.

Die Schüler der Madame Anne Ariane Ascaride ist als Madame Gueguen äußerst überzeugend und wird schnell zur Sympathieträgerin. Auch die schauspielerischen Leistungen der jungen Leute (Profis und Laien bilden hier ein Kollektiv) sind erstaunlich. Sie agieren absolut realistisch und ungekünstelt, das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Regisseurin. Das Ganze hat fast den Charakter eines Dokumentarfilms, was sicher auch daran liegt, dass dem Film eine wahre Begebenheit zugrunde liegt. Ein Schüler aus der besagten Klasse, Ahmed Dramé, ließ der Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar ("Willkommen in der Bretagne") einen Drehbuchentwurf zukommen, sie fand diesen "erschütternd und beeindruckend" und war schnell bereit, daraus einen Film zu machen. Der dunkelhäutige Dramé (seine Mutter stammt aus Mali) spielt selbst mit, er verkörpert den Muslim Malik. 2015 wurde er im Rahmen des César-Filmpreises als bester Nachwuchsschauspieler nominiert.

Der Film berührt die Zuschauer, aber auch – nicht zuletzt durch die süßliche Musik – manchmal die Grenze zum Kitsch.  

Manfred Lauffs / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Neue Visionen Filmverleih

 
Filmdaten 
 
Die Schüler der Madame Anne (Les héritiers) 
 
Frankreich 2014
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar;
Darsteller: Ariane Ascaride (Anne Gueguen), Ahmed Dramé (Malik), Noémie Merlant (Mélanie), Geneviève Mnich (Yvette), Stéphane Bak (Max), Wendy Nieto (Jamila), Aïmen Derriachi (Saïd), Mohammed Seddiki (Olivier/Brahim), Naomi Amarger (Julie), Alicia Dadoun (Camélia), Adrien Hurdubae (Théo), Raky Sall (Koudjiji), Amine Lansari (Rudy), Koro Dramé (Léa) u.a.;
Drehbuch: Marie-Castille Mention-Schaar, Ahmed Dramé; Produzenten: Marie-Castille Mention-Schaar, Pierre Kubel; Kamera: Myriam Vinocour; Musik: Ludovico Einaudi; Schnitt: Benoît Quinon;

Länge: 105,18 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Neue Visionen Filmverleih; deutscher Kinostart: 5. November 2015



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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