12.02.2013
Geschichte einer Nonne

Die Nonne (2013)


Die Nonne (2013): Pauline Etienne "Ich muss erwachsen werden und beten." So sage es ihr der Priester, erklärt die junge Suzanne (Pauline Etienne) ihrer Mutter (Martina Gedeck). Die wird die 16-Jährige in die Obhut einer anderen geben: der Mutter Oberin Madame de Moni (Francoise Lebrun) des Ordens St. Marie, wo Suzanne das Glaubenseid ablegen soll. Doch da sie Gott die Wahrheit versprochen hat, kann die Novizin bei der Aufnahmezeremonie des Ordens nicht Freiwilligkeit heucheln, wo nur Zwang herrscht. Denn trotz ihres tiefen Glaubens fühlt sich Suzanne nicht berufen zu dem, was sie in Guillaume Nicloux' fokussierter Kinoadaption von Denis Diderots aufklärerischem Klassiker wird: "Die Nonne"

In die Titelrolle begibt sich die 1760 in Frankreichs in Bourgeoisie Aufwachsende nicht aufgrund eigener, sondern anderer Leute Überzeugungen – keine einzige davon religiöser Art. Die gegen das Gelübde aufbegehrende Figur ist die mit dem tiefsten Glauben; einem Hauptgrund für ihren Widerwillen gegen das falsche Bekenntnis zur Ordensgemeinschaft. Deren Egoismus und Barbarei sind eine verschärfte Form des skrupellosen Pragmatismus in Suzannes Familie, die ihr keine mehr sein will. Die älteren Schwestern sind Konkurrentinnen um die Mitgift, für die es bei der Jüngsten nicht mehr reicht. Statt wie ihre Schwestern zu heiraten soll sie eine Braut Christi werden. Der Ring an ihrem Finger ist als Teil der Schwesterntracht sublimes Indiz für die Scheinwerte und -privilegien des Klosterlebens, wo Privatsphäre nicht existiert und Beisammensein oder Alleinsein nur als Weisung der Vorsteherin. "Ihre Kunst ist all die Dornen des religiösen Lebens zu verbergen", beschreibt Suzanne in einem Brief, den sie qualvolle Monate später einem Anwalt zukommen lässt, ihre erste Oberin.

Die Nonne (2013) Das stumme Erdulden psychischer und körperliche Pein stilisieren die Prinzipien von Buße, Entsagung und Selbstkasteiung zur obersten Tugend. An sie appelliert Madame de Moni, die behauptet, sie "habe nie jemandem zur Religion hin gelockt" während sie gleichzeitig Suzanne zum Nachgeben zu überreden versucht, und auf sie besteht Suzannes Mutter, die ihr sagt: "Meine einzige Sünde war deine Geburt." Sie ist die Folge eines Seitensprungs, den Suzanne im figurativen Sinn mit ihrem Leben, dem, das ihr im Kloster verwehrt wird, büßen wird. Die verschachtelte Melodramatik der Vorlage, widerstrebt der dramaturgischen Klarheit des filmischen Sittenbilds. Es besticht formell dank der versierten Darstellerinnen, die Diderots zwischen den Gegenpolen von Tragik und beißendem Spott changierenden Figuren zu modernen Ebenbildern aus Fleisch und Blut machen ebenso wie optisch. Während des Gelübdes breitet man ein weißes Kreuztuch gleich einem Leichentuch über die Novizinnen. Sie sind fortan lebendig begraben hinter Klostermauern, die Eifersucht, Sadismus und Fanatismus beherbergen.

Die Achtung der Außenwelt vor der klerikalen Institution ist Teil eines perfiden Geschäfts mit der bürgerlichen Gesellschaft, die sich armer, unerwünschter und eigensinniger Individuen wie Suzanne entledigt, indem sie ihnen ein religiöses Dasein aufzwingt. Trotzdem sei "La Religieuse" weniger ein Roman über Gefangenschaft, denn über Freiheit, sagt Regisseur und Co-Drehbuchautor Nicloux über die Vorlage von Denis Diderot. Seine These eines freien Willens, der das Individuum in seinem Schicksal letztendlich auf sich selbst zurückwirft, durchwirkt gleich einem roten Faden das Handlungsmuster. Eine fiktionale Facette des Philosophen und Kritikers, der klerikalen Zwang familiär und persönlich zu spüren bekam, ist Suzanne im wortwörtlich ein Freigeist. Als solcher bewahrt sie ihre spirituelle und emotionale Autarkie und erringt dadurch ihre Befreiung auf anderem Weg als Jacques Rivettes "La Religieuse". Doch der milde Ausgang hat einen bitteren Beigeschmack, denn ein Zugeständnis an die Hoffnung bedeutet hier eines an Heuchelei.  

Lida Bach / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Berlinale

 
Filmdaten 
 
Die Nonne (2013) (La Religieuse (2013)) 
 
Frankreich / Deutschland / Belgien 2013
Regie: Guillaume Nicloux;
Darsteller: Pauline Etienne (Suzanne), Isabelle Huppert (Oberin von Saint Eutrope), Louise Bourgoin (Oberin Christine), Martina Gedeck (Suzannes Mutter), Françoise Lebrun (Madame de Moni), Agathe Bonitzer (Schwester Thérèse), Alice de Lencquesaing (Schwester Ursule), Gilles Cohen (Vater von Suzanne), Lou Castel (Baron de Lasson), Fabrizio Rongione u.a.;
Drehbuch: Jerome Beaujour, Guillaume Nicloux nach dem Roman von Denis Diderot; Produzenten: Sylvie Pialat, Benoit Quainon; Kamera: Yves Cape; Musik: Max Richter;

Länge: 107,04 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Camino Filmverleih GmbH; deutscher Kinostart: 31. Oktober 2013
ein Film im Wettbewerb der 63. Berlinale 2013



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der Film im Katalog der 63. Berlinale 2013
<12.02.2013>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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