19.04.2013
Fehlkonstruierte Versuchsanordnung

Die Lebenden


Die Lebenden: Anna Fischer Eigentlich können sie es. Und eigentlich können sie es gut. Die österreichischen Filmemacher sind den (aktuellen) deutschen Filmemachern um Längen voraus, wenn es darum geht plausible, nicht artifizielle, humorvolle und zugleich spannende Geschichten zu erzählen. Jessica Hausner, Ulrich Seidl, Wolfgang Murnberger, Michael Glawogger, Peter Kern und auch Barbara Albert haben – natürlich zusammen mit Michael Haneke – dem österreichischen Film in den letzten beiden Dekaden auch international ordentliche Prestige und Renommé verpasst. Ihn also gleichermaßen aufpoliert.

Barbara Albert lieferte 1999 mit ihrem ersten Langspielfilmdebut "Nordrand" eine fulminante Milieustudie, die mitunter den Österreichern jenen Zahn der Intoleranz und Scheinheiligkeit zieht, die schon der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler, und später der Österreichhasser sui generis Thomas Bernhard mit Genuss und geballter Verachtung thematisierten. 2006 dann portraitiert Albert in ihrem Ensemblefilm "Fallen" in einer eng angelegten Charakterstudie die divergierenden Psychologien von fünf unterschiedlichen Frauen, die zwecks einer Beerdigung zusammenkommen. Die Filmheroinnen Birgit Minichmayr, Nina Proll und Ursula Strauß überbieten sich hier als jeweils exzellent agierende Actrice.

Die Lebenden: Anna Fischer, August Zirner Umso verwunderlicher der neue Film von Barbara Albert mit dem alles und gleichzeitig nichtssagenden Titel "Die Lebenden". In gut zwei Stunden bebildert die Filmemacherin die Geschichte der 25-jährigen Sita (Anna Fischer), die durch Zufall entdeckt, dass ihr Großvater ein Nazischerge war, und eine ausführende Funktion in einem Konzentrationslager innehatte. Albert begleitet ihre junge Protagonistin bei den einzelnen Stationen innerhalb ihrer Recherchearbeit, und entwickelt nebenbei kleinere, mehr oder weniger wichtige Nebenhandlungsstränge. Prinzipiell kann man die Fragen von Schuld und Sühne, von Aufarbeitung und Verdrängung, und von der eigenen Positionierung innerhalb schwieriger Familienkonstellationen zu einem interessanten Sujet gestalten, das neue Horizonte wie Perspektiven eröffnet. Barbara Albert jedoch zeichnet eine Figur, die in sich nicht nur völlig unschlüssig und teilweise nervig daherkommt, sie überfrachtet ein an und für sich wichtiges Thema mit Nebenschauplätzen, deren Plausibilität vielfach zu Wünschen übrig lassen.

Einerseits ist Sita eine hochengagierte junge Germanistikstudentin, ausgestattet mit einem ausgeprägten Interesse für historische Fragen, und für Fragen ihrer eigenen offenbar bislang kaum besprochenen Familiengeschichte; andererseits ist sie das junge Berliner Gör, das energiestrotzend auf der Vespa durch Berlin fährt, und das Weinen anfängt, wenn ihre Affäre sie nicht sofort zurückruft. Wenn man einen Charakter in diesen beiden Extremen dergestalt überhöht, wirkt er mitunter wie eine übersteigerte Heldenfigur, die es schafft ohne großen Mühen sich jeder Situation anzupassen und diese im Handumdrehen zu meistern. Will sagen: die junge Frau ist schlichtweg etwas zu überzeugt und überzeugend, zu selbstsicher zu willensstark. Wiederum absurd ist es, wenn die Protagonistin im Warschauer Archiv eine Frau kennenlernt, diese ihr nach zweiminütigen Gespräche anbietet bei ihr in einem besetzten Haus wohnen zu können, und wiederum fünf Minuten später die Protagonistin in erster Front gegen die Hausräumung durch die Polizeit protestiert; fünf Minuten später – natürlich völlig unbeschadet – verfolgt ihren ehrgeizigen Recherchearbeiten widmet. Neben vielen dramaturgischen Lächerlichkeiten – wie eine abgelutschte Liebesgeschichte, eine immer wieder angespielte Herzkrankheit der Protagonistin, die dann freilich von der verstorbenen Großmutter weiter vererbt wurde – verunglückt Albert leider, wie viele andere Filmemacher, dabei ein Potpourri von verschiedenen Themen in einen einzigen Film hineinpropfen zu wollen. Sie jagt dabei ihre Heldin von Berlin nach Wien, von Wien nach Warschau, von Warschau nach Stuttgart, von Stuttgart nach Berlin und dann als Katharsis gleichsam in Siebenbürgen zu landen. Ein Parforceritt, der dramaturgisch zwar unnötig ist, aber wenigstens einige Längen und ermüdende Bildwiederholungen kurzweilig zu kompensieren vermag.

Die Lebenden: Anna Fischer Penetrant sind aber nicht nur die Häufungen dramaturgischer Unsäglichkeiten, sondern auch der pausenlose Einsatz einer wackeligen Handkamera, oder eines steadycams. Dass die Protagonistin von unermüdlichem, innerem Antrieb und jugendlich überbordender Energie befeuert wird, wird einem spätestens nach der fünften Sequenz, in der sie wie eine Irre auf der Vespa durch die Stadt fährt, klar. Die Verwendung einer ständig wackelnden Handkamera unterstreicht diese Tatsache nicht unbedingt. Man ist auch geneigt die vielfachen grobkörnigen Aufnahmen eher als unmotivierte Spielerei anzusehen, die aber mit dem unverhohlenen Pathos, den der Film und die ein bisschen überreife 25-Jährige Protagonistin transportieren nicht in Einklang zu bringen sind.

Albert bauscht überdies den Film und die Handlung melodramatisch auf, wenn sie vielfach emotionalisierende Musik einspielt, um dadurch die matten Bilder und stilisierten Dialoge ein wenig aufzupeppen. Banal auch die Dichothomie, wenn sie die Generationsunterschiede von Tochter und Vater in die kontrapunktische Setzung der Musik überträgt. Zweifelsohne: Die Hauptdarstellerin ist in ihrem Spiel bemüht das brennende Engagement einer jungen Frau zu verkörpern, die auf der Suche nach Antworten ist, die sie schlussendlich nicht finden wird. Das hilft aber alles nichts.

In dem von Barbara Albert entworfenen Konstrukt ist das Agieren seiner Figur eine sterile, naive, völlig fehlkomponierte Versuchsanordnung, die man trotz der eigentlichen Ernsthaftigkeit des Themas so richtig nicht ernst nehmen kann. So sehr man vielleicht möchte.  

Sven Weidner / Wertung: * (1 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Real Fiction Filmverleih

 
Filmdaten 
 
Die Lebenden  
 
Österreich / Polen / Deutschland 2012
Regie & Drehbuch: Barbara Albert;
Darsteller: Anna Fischer (Sita), Hanns Schuschnig (Gerhard Weiss), August Zirner (Lenzi, Sitas Vater), Itay Tiran (Jocquin), Daniela Sea (Silver), Winfried Glatzeder (Michael Weiss), Almut Zilcher (Marianne, Sitas Mutter), Wanja Mues (Gunther), Emily Cox (junge Frau), Kristina Bangert (Gerda, Lenzis Frau), Karl Alexander Seidel (Jugendlicher) u.a.;
Produktion: coop99 in Koproduktion mit Alex Stern Film, Komplizen Film; Produzenten: Barbara Albert, Bruno Wagner; Kamera: Bogumil Godfrejów; Musik: Lorenz Dangel; Schnitt: Monika Willi;

Länge: 111,55 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Real Fiction Filmverleih e.K.; deutscher Kinostart: 30. Mai 2013



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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