31.01.2017

Die Blumen von gestern


Die Blumen von gestern: Lars Eidinger, Hannah Herzsprung Totila Blumen (Lars Eidinger) ist ein exzentrischer Holocaust-Forscher, der seinen Beruf sehr ernst nimmt. An der Zentralen Stelle in Ludwigsburg arbeitet er an der Vorbereitung eines Auschwitz-Kongresses mit. Zazie Lindeau (Adèle Haenel), eine verrückte junge Französin, wird ihm als Praktikantin zugeteilt. Beide sind durch die Geschichten ihrer Familien im Dritten Reich verbunden. Eine schreckliche Vergangenheit, die in der Gegenwart Grundlage für eine leidenschaftliche Hass-Liebe wird. Die Blumen von gestern sind ein humorvolles Märchen über modernes Gedenken.

Der Holocaust-Forscher Totila Blumen, genannt Toto, ist eine extreme Figur, die überall aneckt. Die Ernsthaftigkeit, mit welcher der Enkel eines hohen NS-Kriegsverbrechers seine Forschungen zum deutschen Völkermord betreibt, ist zu dunkel und zu rau für sein pragmatisches Arbeitsumfeld. Seine in einem Meeting vorgebrachte Verachtung gegenüber dem Plan, den Auschwitz-Kongress mit Geldern von Konzernen wie Mercedes durch Werbung zu finanzieren, wird von seinen Kollegen als Unzurechnungsfähigkeit abgetan.

Verbal übertritt Totila ununterbrochen Grenzen. Mal so nebenbei bezeichnet er Polen als das Land der guten Putzfrauen oder empfiehlt seiner etwa siebenjährigen Adoptivtochter, in Anbetracht der Realität doch lieber Nutte als Forscherin zu werden. Ein schlagfertiger und zynischer Idealist, der die Codes politischer Korrektheit nicht beachtet und damit Auslöser für jede Menge rasanter Dialoge wird.

In der Obsession für seine Arbeit spricht er sich selbst das Recht ab, überhaupt positiv zu denken. Totilas Frau Hannah, die unter seiner Impotenz leidet, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihr Mann die Nazi-Vergangenheit seiner Familie hinter sich lässt und anfängt, in der Gegenwart zu leben.

Die Verneinung der Gegenwart, die Entsagung individuellen Glücks aufgrund historischer, familiärer und nationaler Schuld, wird im Zusammenhang mit der deutschen Gedenkkultur immer wieder kritisch diskutiert. Totila Blumen hat sie zum Prinzip seines Lebens gemacht und zwar mit einer Vehemenz, die diese Haltung humorvoll entstaubt und ihr eine tragikomische Lebendigkeit verleiht. Die Figur selbst steckt zunächst in ihrem Leben, in ihrem Beruf als Holocaust-Forscher fest.

Die Blumen von gestern: Adele Haenel, Lars Eidinger Erst die Französin Zazie, die Totila als Praktikantin zugeteilt wird, erschüttert den emotionalen Stillstand seiner Aufarbeitungsbemühungen. Im Takt von Wimpernschlägen wechselt ihre Verfassung von Leichtigkeit zu Wut, zu Zärtlichkeit, zu tiefer Verletzlichkeit. Ihr Mundwerk ist ebenso frech und unbeherrschbar wie das von Totila. Und dahinter liegt, genau wie bei ihm, eine Vergangenheit, deren Schrecken bis in die Gegenwart wirkt: Ihre Großmutter wurde in Riga vergast, unter der Leitung seines Großvaters. Zunächst findet er alles, was sie sagt, unerträglich banal, fühlt sich von ihr ununterbrochen provoziert und trampelt ihr mit groben und zynischen Bemerkungen auf der Seele herum. Es ist das alte Thema einer Liebe, die als gewaltige Auseinandersetzung zweier ebenbürtig extremer, in der Tiefe aber verbundener Kontrahenten beginnt.

Auf einer Geschäftsreise, die sie ohne Genehmigung von Wien nach Riga ausdehnen, wo ihre Großeltern zusammen auf die deutsche Schule gegangen sind, verlieben sich die beiden Holocaust-Nachfahren. In stillen und nachdenklichen Bildern, die all die drastischen und schnellen Dialogszenen drumherum kontrastieren, fängt der Film die Liebe der zwei Nachgeborenen ein. In der Begegnung miteinander können die beiden Protagonisten jene Vergangenheit, deren Erforschung sie sich verschrieben haben, in der Gegenwart sinnlich berühren. Die Suche der beiden Protagonisten erreicht in ihrer Intimität einen Höhepunkt, findet eine kurze Erlösung – bevor das Leben der Dialoge und Diskussionen weitergeht und viele Fragen offen lässt.

Die Blumen von gestern: Lars Eidinger (links) Denn der Regisseur Chris Kraus zeigt uns in seinem Film keine verbindliche Lösung, kein bestmögliches Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart. Die Blumen von gestern sind das Ergebnis seiner langjährigen Recherche zur Nazi-Vergangenheit seiner eigenen Familie. Entstanden ist eine Studie der vielfältigen, oft weit auseinanderliegenden Erfahrungen eines persönlichen Erinnerns. Den großartigen schauspielerischen Leistungen von Lars Eidinger (Totila Blumen) und Adèle Haenel (Zazie Lindeau) ist zu verdanken, dass hinter schwarzem Humor, sexuellen Anspielungen und skurrilen Szenarien die tiefe Traurigkeit und Ernsthaftigkeit der Figuren spürbar bleibt, mit der ein umfassendes und aktuelles Porträt ernst gemeinter zeitgenössischer Aufarbeitung gelingt. Die Blumen von gestern sind in ihrer Leidenschaftlichkeit und Vitalität eine Ermutigung, sich den Herausforderungen des Erinnerns zu stellen.  

Simon Probst  / Wertung:  * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Piffl Medien

 
Filmdaten 
 
Die Blumen von gestern  
 
Deutschland/Österreich 2016
Regie & Drehbuch: Chris Kraus;
Darsteller: Lars Eidinger (Totila Blumen), Adèle Haenel (Zazie Lindeau), Jan Josef Liefers (Balthasar Thomas), Hannah Herzsprung (Hannah Blumen), Sigrid Marquardt (Tara Rubinstein), Djenabuh Jalloh (Sarah Blumen), Rolf Hoppe (Professor Norkus), Bibiane Zeller (Lisbeth Blumen), Gerdy Zint (Sieghart Blumen), Cornelius Schwalm (Bächle), Eva Löbau (Anita Koldewey), Irene Rindje (Charlene Morgenrot), Hans-Jochen Wagner (Mauersperger) u.a.;
Produzenten: Danny Krausz, Kathrin Lemme; Kamera: Sonja Rom; Musik: Annette Focks; Schnitt: Brigitta Tauchner;

Länge: 125,38 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Piffl Medien GmbH; deutscher Kinostart: 12. Januar 2017



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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