29.06.1996
Alles was maßlos ist, ist gut
Die 120 Tage von Sodom
Mussolinis Italien im Jahre 1944.
Vier hohe, faschistisch geprägte Persönlichkeiten der Großbourgeoisie veranstalten eine menschenverachtende Lustorgie, welche die Grenzen des Erträglichen und des Vorstellbaren zerbersten läßt. Um ihren "de Sad(e)istischen" Durst zu stillen, lassen die Vier, zu Objekten der animalischen Begierde degradiertes, menschliches Material herbeischaffen. In drei gewaltverliebten Akten: Höllenkreis der Leidenschaft, Höllenkreis der Scheiße und Höllenkreis des Blutes, durchleiden die Opfer die Ejakulation der Perversität.
Pier Paolo Pasolinis Verfilmung der gleichnamigen Literaturvorlage von Marquis de Sade, ist die geni(t)ale Darstellung der sadistischen Formel, in welcher die Subordination die Quelle der Wollust des Peinigers ist. Der Terror, der von einem Gewaltregime anarchisch oktroyiert wird und dessen sich die demokratische Unschuld, ihre Vergewaltigung akzeptierend, hingibt, ist der cinematographische Protest, die kritische Anprangerung der leugnerischen historischen Inexistenz des italienischen und klerikalen Faschismus.
Die heuchlerische Verleumdung der Mussolini-Diktatur, die die Macht nicht als anarchisch empfindet sondern als gegebenen Zustand toleriert und hinnimmt, bewegte Pasolini zu dieser düsteren Inszenierung.
Ekel und Genuß fungieren in diesem Film wie siamesische Zwillinge: Zu klassischer Musik (z.B. "Das heitere Gesicht des Frühlings" aus Carl Orffs "Carmina Burana") spielt die finale Folterszene und im Augenblick der Demütigung zitiert man Nietzsche und Baudelaire. Hier wird eines eindeutig klar: Intellekt ist keine Grundvoraussetzung für das Gute!
Aber was ist die Faszination dieses Films, die einem wie kaltes Erbrochenes im Halse des Gewissens steckt? Es ist die Wahrheit! Es ist die Wahrheit der unabstreitbaren menschlichen Geschichte. "Die 120 Tage von Sodom" ist ein Präzedenzfall der Selbsterkenntnis, nämlich jener, daß in jedem von uns die gottgegebene genetische Verschuldbarkeit der Barbarei innewohnt. Im historischen "Dreisatz" lautet dies: Denunziation - Kollaboration - Auschwitz.
Ali Selçuk Akinci
/ Wertung:
* * * * *
(5 von 5)
Filmdaten Die 120 Tage von Sodom (Salò o le centoventi giornate della città di Sodoma / Salo ou les 120 journées de Sadome) Italien / Frankreich 1975 Regie: Pier Paolo Pasolini; Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti; Kamera: Tonino Delli Colli; Produzent/Produktionsfirma: Alberto Grimaldi für PEA (Rom)/Les Productions Artistes Associés (Paris); Darsteller: Paolo Bonacelli, Aldo Valletti, Giorgio Cataldi, Umberto Paolo Quintavalle, Sonia Saviange, Caterina Boratto, Sergio Fascetti, Bruno Musso, Giuliana Melis, Dorit Henke u.a. Länge: 115 Minuten; FSK: nicht unter 18 Jahren.
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