15.02.2015
Berlinale-Wettbewerbsfilm

Diary of a Chambermaid (2015)


Verführerisch trotz ihrer charakterlichen Schwächen ist die Heldin von Octave Mirbeaus süffisanter Novelle und nicht minder die schöne Léa Seydoux in Benoit Jacquots hintersinniger Adaption. Der französische Filmemacher ist nach Jean Renoir 1946 und Luis Bunuel 1964 der dritte Regisseur, der sich an die Verfilmung des dekadenten Sittengemäldes macht.

Diary of a Chambermaid (2015) Seine filmschöpferischen Vorgänger nutzen die Vorlage jeder auf eigene Weise als Folie für zeitgenössische Gesellschaftskritik. Diese steckt bei Jacquot in delikaten Gesten, diskreten Blicken und Doppeldeutigkeiten – kurz, im Detail wie der Teufel in den korrupten Protagonisten. Eine Kammerzofe verkörperte Hauptdarstellerin Seydoux bereits in Jacquots "Leb wohl, meine Königin" ("Farewell, My Queen"), der 2012 die Berlinale eröffnete. In beiden Werken werfen politischer Umbruch und Krieg ihren Schatten voraus, erst die Französische Revolution, nun der Erste Weltkrieg. Bisweilen scheinen die Figuren von diffuser Unruhe überkommen, als ahnten sie kommenden Schrecken. Er ist nur die logische Schlusskonsequenz der menschlichen Verrohung. Während "Leb wohl, meine Königin" am Hof Marie Antoinettes spielt, ist die Szenerie des demaskierenden Dramas nun die ländliche Villa der Lanlaires um die Jahrhundertwende. Hierher verschlägt es die kecke Celestine, die den Pariser Trouble nur unwillig gegen die Abgeschiedenheit der Normandie eintauscht. Denn die schmutzigen Geheimnisse der feinen Leute kennt sie nur zu gut. Madame Lanlaire (Clotilde Mollet) kompensiert ihre sexuelle Frustration, indem sie die Bediensteten terrorisiert.

Diary of a Chambermaid (2015) Ihr Gatte (Hervé Pierre) macht Celestine kurz nach ihrer Ankunft klar, wie sie ihre Position im Haushalt voranbringen kann. Noch abstoßender ist die Aufmerksamkeit des schweigsamen Hausdieners Joseph (Vincent Lindon), dessen pamphletistischer Aktivismus nur ein unzureichendes Ventil für seine Aggressionen ist. Er sieht sich bereits als Zuhälter Celestines, die still kalkuliert, ob sie nicht mit dem dritten Anwärter am besten fährt: der ältliche Nachbar hat ein Auge auf sie geworfen, da er seiner gegenwärtigen Haus- und Bettgefährtin überdrüssig geworden ist. Hinter der Vornehmheit wuchern Verkommenheit und Abgründe, die sich auch in der Seele der Protagonistin auftun. Celestine muss sich ihrem Umfeld anpassen, will sie in den sozial und emotional pervertierten Kreisen überleben. Wie jene enden, die unvorsichtig, naiv oder gar unschuldig sind, zeigen das Schicksal der Köchin Marianne (Mélodie Valemberg) und der kleinen Claire (Dominique Sauvage), die allein Blumen sammeln geht. Marianne hat ihren letzten Posten wegen einer unehelichen Schwangerschaft verloren, das Baby umgebracht und erwartet womöglich von Lanlaire ein neues – nicht als erstes der Dienstmädchen. Claire wird vergewaltigt im Wald gefunden, aufgeschlitzt und verstümmelt.

Diary of a Chambermaid (2015) Genau so müsste man es mit den Juden machen, knurrt Joseph, dessen bestialische Grausamkeit auf Celestine eine bizarre Anziehung ausübt. Verderbtheit triumphiert über Gutherzigkeit, sogar in ihr, die zum originalgetreuen Ende gleich Marie Antoinette in "Leb wohl, meine Königin" in einer Kutsche in fatales Dunkel verschwindet. Statt der fröhlichen Zukunft des Mädchens in Eduard Manets "Bar in den Folies Bergeres", die sie sich erträumt, endet sie wohl eher vor Manets "Glas Absinth", welches die vertraulichen Kamerabilder ebenfalls zitieren. In solch visuell bedrückendem Rahmen führt Jacquot die Lügen und Doppelmoral des Klassensystems vor. Er übernimmt Celestines sarkastischen Blick auf das Geschehen, das sie in Gedanken kommentiert. Die Triebe von Oberschicht und Unterschicht sind gleichermaßen niedrig und spielen einander in die Hände, wo sich eine Seite von der anderen einen Vorteil ausrechnet. Wer den subtilen Machtkampf gewinnt, ist keineswegs unabänderlich in den sozialen Rollen festgeschrieben und Celestine nach ihrer letzten Lektion entschlossen, ihren Vorteil zu verfolgen: "...bis zum Verbrechen."  

Lida Bach / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Carole Béthuel

 
Filmdaten 
 
Diary of a Chambermaid (2015) (Journal d'une femme de chambre (2015)) 
 
Alternativtitel: Tagebuch einer Kammerzofe (2015)

Frankreich / Belgien 2015
Regie: Benoit Jacquot;
Darsteller: Léa Seydoux (Célestine), Vincent Lindon (Joseph), Clotilde Mollet (Madame Lanlaire), Hervé Pierre (Monsieur Lanlaire), Mélodie Valemberg (Marianne), Patrick D'Assumçao (Hauptmann), Vincent Lacoste (Monsieur Georges), Joséphine Derenne (Madame Mendelssohn), Dominique Reymond (Vermittlerin) u.a.;
Drehbuch: Hélène Zimmer, Benoit Jacquot nach einem Roman von Octave Mirbeau; Produktion: Les Films du Lendemain; Produzenten: Kristina Larsen, Jean-Pierre Guérin, Delphine Tomson, Luc Dardenne, Jean-Pierre Dardenne; Kamera: Romain Winding; Musik: Bruno Coulais; Schnitt: Julia Grégory;

Länge: 96 Minuten; deutscher Kinostart: noch nicht bekannt

Ein Film im Wettbewerb der 65. Berlinale 2015



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Der Film im Online-Katalog der Berlinale
<15.02.2015>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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