24.07.2017

Der Ornithologe


Wie erzählt der Film im 21. Jahrhundert Heiligengeschichten? Eines der großen Projekte des modernen und postmodernen Bewusstseins und seiner Kunst ist, außerhalb der Dogmen großer Erzählungen wieder neue Formen von Beziehungen der Menschen auf Götter und andere Formen transzendenter Wirklichkeit zu erproben. "Der Ornithologe" führt direkt an die formalen Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Erzählung.

Der Ornithologe Die Zuschauer des Films werden eingeladen mit demselben genauen Blick auf die Vogelwelt im Norden Portugals zu schauen, wie auf die Ereignisse der Transformation des Ornithologen zum Heiligen: Der Vogelliebhaber Fernando (Paul Hamy) gerät beim Beobachten von Vögeln in den Steilwänden an den Rändern eines Flusses mit seinem Kajak in Stromschnellen, kentert und verliert das Bewusstsein. Die chinesischen Pilgerinnen Ling (Chan Suan) und Fei (Han Wen), die sich vom Jakobsweg in den Norden Portugals verirrt haben, retten ihm das Leben. In der Nacht führt er mit ihnen ein Streitgespräch über die Existenz böser Geister und Gottes. Am nächsten Morgen wacht er am ganzen Körper gefesselt auf. Die Chinesinnen, die auch ein Liebespaar sind, wollen, dass er sich zum katholischen Glauben bekennt und dazu, der Heilige Antonius zu sein. Von hier aus, fast ohne Kleidung, ohne Ausweis, ohne die Pillen, die zu nehmen sein Freund ihn per Handy immer wieder ermahnt, beginnt die Reise durch einen Urwald, in dem als Vögel verkleidete Männer um Feuer tanzen, ein taubstummer Hirtenjunge namens Jesus am Fluss Ziegen hütet, drei barbusige Amazonen auf der Jagd ihn fast erschießen und alles teleologisch auf die Verwandlung und Bekehrung Fernandos ausgerichtet ist. Diese kündigt sich in kleinen Zeichen an: Er gürtet sich mit einem der Stricke, mit denen er gefesselt worden war, wie ein Mönch, er legt sich die Hirtenpfeife von Jesus um den Hals, brennt sich mit einer heißen Schraube seine Fingerabdrücke aus, schüttet seine Pillen auf den Boden, als er sie wiederfindet, schient einer weißen Taube den gebrochenen Flügel, der über Nacht wundersam heilt und wird von ihr als Zeugin seiner Transformation begleitet. Sogar eine Wiederauferstehung scheint es zu geben.

Der Ornithologe So gut sich all die Skurrilitäten des Plots erzählen lassen, sind sie doch in ihrer Vielzahl die Makel des Films, der nur an den Stellen zum Meisterwerk wird, wo er auf seine Form, einfache Bilder, die Leistung Paul Hamys und das Sehen des Zuschauers vertraut. Dort erweist "Der Ornithologe" die Möglichkeit in einem realistischen Erzählverfahren eine Welt zu machen, in der eine Spannung zwischen dem Diesseits des Gezeigten und Erzählten und dem Jenseits des nur Angezeigten und Verschwiegenen entsteht, in welcher der Betrachter das Einbrechen des Heiligen erwarten kann, als etwas, das als Strafe oder Erlösung gleichermaßen verstört. Diese Film-Wirklichkeit erzeugt Regisseur João Pedro Rodrigues in der Montage verschiedener, einander überschneidender Blickwirklichkeiten. Der Kameramann Rui Poças zeigt uns Landschaftsaufnahmen, Vogelaufnahmen, Fernando beim Schwimmen, Kaffeekochen und anderen Verrichtungen, die stets Distanz zum Gezeigten wahren und bis zum Extrem der Lenkung des Zuschauerblicks zu entsagen scheinen. Dieser bekommt in den Bildern die Freiheit des Sehens geschenkt und wird als Beobachter initiiert und in die Gemeinschaft der anderen Blicke des Films aufgenommen. Fernando beobachtet durch den schwarz begrenzten Ausschnitt seines Fernglases Vögel und wir in der gleitenden oder rasanten Fahrt der Beobachteten durch den Himmel mit ihm. Er leiht dieses Glas auch dem taubstummen Hirtenjungen Jesus, kurz bevor er ihn in einem Handgemenge ersticht, so dass auch dieser uns als ein Sehender vertraut wird. Die Vögel wiederum beobachten den Ornithologen aus großer Höhe und in diesem Sehen verschwimmt die Welt gegen die Ränder zunehmend. Die erste Verwandlung Fernandos in den heiligen Antonio, den nicht Paul Hamy, sondern der Regisseur selber spielt, ereignet sich in einem dieser Vogelblicke. Die Geschichte der beiden Chinesinnen, die vom Jakobsweg abgekommen sind und sich in den Urwald Portugals verirrt haben, erfahren wir über eine collagierte Diashow der Fotografien, die sie auf dem Weg aufgenommen haben. Das Sehen selbst, als zentraler Akt der Filmkunst, wird exponiert und die Blicke als ein Spiegelkabinett inszeniert, indem das Unnennbare in vielen Reflexionen ungreifbar sichtbar wird und dem sich der Zuschauer als einer, der blickt und sieht nicht entziehen kann.

Der Ornithologe Der Film scheitert trotz seinem virtuosen erzähltechnischen Beginnen an dem Versuch, zu einem Ende zu gelangen. Er driftet im Vollzug der Metamorphose in einen magischen Realismus ab und verlässt sich zu sehr auf die Kuriosität grotesker Rituale und wunderartiger Ereignisse. Auch die filmische Gestaltung wird zunehmend konventioneller und uninteressanter je mehr sich die Filmbilder aus der Außenwelt in die Subjektivität von Visionen zurückzieht. Der Zuschauer wird vom präzisen Beobachter und Phänomenologen eines Zeitgenossen, der dem verstörenden Heiligen begegnet zum Voyeur exotischer und unglaublicher Ereignisse degradiert. Eine enttäuschende Feigheit am Rande ist die pharmakologische Absicherung von Visionen und Wundern in der möglichen Lesart der Filmhandlung als eines neurologischen Produkts von Pillenentzug. Im Ende verengt und trivialisiert sich der Film auf die Verschränkung einer Heiligengeschichte mit homosexueller Liebe und tilgt durch dieses allzu deutliche Statement an der Zärtlichkeit und dem Begehren zwischen Männern die klare und rücksichtslose Körperschönheit aus, mit der sie in der ersten Hälfte des Films belichtet worden waren. Die Einheit von Sexualität und Religiosität im Eros, als einer Strebung des Geistes, kann nicht aufgewiesen werden. Von den Epiphanien, die einem aufmerksamen Zuschauer in der ersten Hälfte ermöglicht werden, bleibt am Ende nichts übrig. Paul Hamy hätte nicht João Pedro Rodrigues, Fernando nicht Antonius werden dürfen. Das Heilige kann postmodern und realistisch erzählt werden, seine Protagonisten und Anwärter dürfen sich aber nicht bekehren, die Spannung der Realitätsebenen nicht auslöschen. Paradoxerweise bringt gerade der Akt des Glaubens die ästhetische Präsenz des Heiligen zum Verschwinden. Und so erbringt "Der Ornithologe", indem er sich als Film und Kunstwerk selbst zerstört, Erkenntnisse über Möglichkeiten und Grenzen des filmischen Erzählens von Transzendenz.  

Simon Probst / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos:  Salzgeber & Co. Medien

 
Filmdaten 
 
Der Ornithologe (O Ornitólogo) 
 
Portugal 2016
Regie & Drehbuch: João Pedro Rodrigues;
Darsteller: Paul Hamy (Fernando), Xelo Cagiao (Jesus / Tomé), João Pedro Rodrigues (António), Han Wen (Fei), Chan Suan (Ling) u.a.;
Produzenten: João Figueiras, Diogo Varela Silva; Kamera: Rui Poças; Schnitt: Raphaël Lefèvre;

Länge: 118 Minuten; FSK: ab 16 Jahren; ein Film im Verleih der Salzgeber & Co. Medien GmbH; deutscher Kinostart: 13. Juli 2017



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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