09.11.2012
Der Tod in Venedig

Das Venedig Prinzip


Eine Möwe zieht entlang der Ufer Venedigs. In einer der unzähligen in der Lagunenstadt spielenden Romanzen wäre es wohl eine schwärmerische Szene. In Andreas Pichlers eingehender Reportage sind die Möwen die Totenvögel Venedigs. Nur noch 58.000 Einwohner leben hier, so wenige wie seit der großen Pest 1438 nicht mehr. Die Zivilisationskrankheit, der einige wenige die Stirn bieten und die übrigen weichen, ist "Das Venedig Prinzip". Der touristische Teufelskreis macht den Lebensraum zu einem Produkt, mit dem jährlich 1,5 Milliarden Euro umgesetzt werden.

Das Venedig Prinzip "Halb Märchen, halb Touristenfalle" nannte schon Thomas Mann die Stadt, durch die letztes Jahr 20 Millionen Besucher strömten, ausgerüstet mit Handy- und Digitalkameras. So oft sei Venedig beschrieben und gemalt worden, bemerkte Henry James, dass sie von allen Städten der Welt diejenige sei, die man am leichtesten besuchen könne, ohne dorthin zu gehen. Die Leute kommen dennoch: Bis zu 65.000 am Tag, aus den Bäuchen gewaltiger Kreuzfahrtschiffe, von denen jährlich rund 1.400 anlegen und mit ihren Bugwellen das poröse Stadtfundament erodieren. Im Erdgeschoss habe sie die Bilder an die Wände kleben müssen, klagt Tudi Sammartini. Die versteckte Wohnung, deren obere Räume sie nach dem Tod ihres Mannes und dem Auszug des Sohnes vermietet, mag durch den Andrang erzittern, die rüstige Greisin nicht. Sie ist eine der letzten alteingesessenen Hauseigentümer. Andere wie der gealterte Motorbootfahrer, dessen Bleibe gekündigt wurde, kapitulieren vor den Quadratmeterpreisen.

Sie beginnen bei rund 6.000 Euro und erreichen leicht das Doppelte, berichtet der Makler Herr Codato. Sein Blick streift feuchtkalte Bruchbuden und leere Herrschaftshäuser mit der gleichen stummen Resignation. Einzig sie überdauert angesichts des Niedergangs, der entweder durch Vernachlässigung eintritt – oder durch Verkauf. Das denkmalgeschützte Postamt gehört mittlerweile Benetton, der es zum Einkaufstempel umbauen will. Dieser Umstand lässt Böses ahnen für die anderen unbeweglichen Kunst- und Kulturschätze, doch Pichler interessiert mehr das Schicksal der Einwohner als das von Scuola Grande, Dogenpalast und San Michele. Nur auf den berühmten Friedhof würden sie noch ziehen, erklären der alte Gondoliere Giorgio und seine Frau, dabei beschleicht einen das bedrückende Gefühl, das Paar bewohne schon zu Lebzeiten eine Totenstadt. In eine solche verwandelt sich die Touristenhochburg, wenn sie nach Abzug der Massen in später Nachtstunde fast ausgestorben daliegt. Venedig werde einmal eine reine Touristenstadt sein, glaubt einer der Protagonisten: "Wie Disneyland".

Das Venedig Prinzip An einem solchen Ort sind Autarkie und unabhängige Arbeit unmöglich. Jede Verdienstmöglichkeit ist gebunden an "Das Venedig Prinzip", ein Vermarktungskonzept, das Alltagsberufe verdrängt. Zwischen Seufzerbrücke und San Marco kann man als Souvenirverkäufer, Tourguide oder singender Gondoliere seinen Unterhalt bestreiten – wenn man Glück hat. Der Ortskundige, der den Disneyland-Vergleich herstellt, informiert Besucher über einen kostenlosen Shuttle zur Glasfabrik in Murano. Das Traditionshaus öffnet seine Werksräume hauptsächlich zu Führungen, um gegen die Billigimitationen der Andenkenstände zu bestehen. Quantität statt Qualität ist das Prinzip der Gästeschar, die ein Arien-Sänger "Take-away-Touristen" nennt: Angereiste, die alles knipsen und filmen und erst beim Ansehen der Bilder registrieren, wo sie waren. In solchen Beobachtungen und Anekdoten verliert sich das Stadtporträt, dessen originäre Charaktertypen mit ihrem gewitzten Pragmatismus an Figuren Carlo Goldonis erinnern. Im Sinne des venezianischen Theaterautors sind sie Diener zweier Herren. Sie schimpfen auf den Tourismus und leben von ihm; nicht zuletzt, weil ihnen keine andere Wahl bleibt.

Auch Pichler macht einen Kompromiss, indem er sich von der sanften Morbidität seiner sich jeder endgültigen Durchleuchtung entziehenden Stadtprotagonistin einwickeln lässt. Dabei wäre gerade mehr Nüchternheit nötig gewesen. Das Traumbild der Besucher zu zerstören sei schwer, heißt es in "Das Venedig Prinzip" einmal: "Aber eigentlich müsste man es."  

Lida Bach / Wertung: * * * (3 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Real Fiction Filmverleih

 
Filmdaten 
 
Das Venedig Prinzip  
 
Deutschland / Österreich 2012
Regie: Andreas Pichler;

Länge: 81,31 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; OmUdt; ein Film im Verleih von Real Fiction Filmverleih; deutscher Kinostart: 6. Dezember 2012



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<09.11.2012>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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