01.10.2017

Gottvater ist tot, Kommunikation auch

Das Schweigen

Der Film "Das Schweigen" (1963) des berühmten schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman gilt als Klassiker. Bergman selbst bezeichnete ihn als "klein". Falsch lag er mit der Einschätzung nicht. "Das Schweigen" ist passabel inszeniert, doch nicht der Filmklassiker schlechthin. Die Kommunikationslosigkeit, das Aneinander-Vorbeireden zweier Schwestern, die sich erst unterschwellig, später sehr offen hassen, ist thematisiert. Der Filmemacher nannte den Film eine Parabel über den "Zusammenbruch von Lebensverhältnissen" und erklärte ihn nachträglich zum dritten Teil einer Trilogie, die mit "Wie in einem Spiegel" (1960) begann und mit "Licht im Winter" (1961) ihren Mittelteil fand. In den drei Filmen geht es um den Glauben an Gott, aber in "Das Schweigen" wird das Verhältnis der Menschen zu ihm lediglich angeschnitten. Gerade mal ein Gespräch der Schwestern handelt vom verstorbenen Vater, der für Gott steht. Pastorensohn Bergman müht sich in seinem Film an der Glaubenskrise ab.

Ein fernes, fiktives Land. Durch dieses reisen die zwei Frauen im Zug. Der kleine Sohn der einen Schwester, Johan (Jörgen Lindström), fährt mit. Schon im Zug herrscht Schweigen. Warum sie das Land besuchen, teilt der Film nicht mit. Es ist lebensfeindlich, ein entgegenkommender Zug transportiert Panzer. Es ist nicht das letzte Mal, dass ein Panzer zu sehen ist. In einer Stadt in einem Hotel angekommen, spielt Johan auf den menschenleeren Fluren des Hotels. Mit den Menschen des Landes gibt es für die Schwestern genauso wenig Kommunikation wie unter den Frauen selbst, denn die Drei verstehen die ebenfalls fiktive Landessprache nicht. Die eine Frau, Ester (Ingrid Thulin), ist Übersetzerin. Aber sie kann mit den Menschen nicht sprechen. Wie mit ihrer wahrscheinlich jüngeren Schwester Anna (Gunnel Lindblom) ist sie auch mit den Fremden nicht in der Lage, zu kommunizieren. Ester ist lungenkrank, Anna, Johans Mutter, sehnt sich nach Beziehungen. Als Einzige verlässt sie das Hotel, wagt sich nach draußen. Sie schnappt sich einen jungen Mann für Sex. Später sagt sie, an dem Mann schätze sie, dass er mit ihr nicht reden könne. Wegen der Sprachbarriere, aber auch wegen der Distanzwahrung. Beide Frauen umgibt Eiseskälte, die sie aneinander auslassen werden.

Anna ist sinnlich, Ester rational und verweigert sich Freuden, was selbstzerstörerisch ist. Nicht grundlos stellt der Regisseur sie als Schwerkranke dar. Beide Schwestern eint der Hass und die Unfähigkeit zu Kontakten. Dies gilt auch für Anna, die einen Mann findet. Mehr als Geschlechtsverkehr gibt es mit ihm nicht. Ester möchte als Ersatz für den verstorbenen Vater Anna kontrollieren, diese lässt dies aber nicht zu, sie emanzipiert sich. Johan derweil kann noch menschenfreundlich kommunizieren, er freundet sich mit den scheinbar einzigen weiteren Hotelgästen an, Liliputanern, die Anna an anderem Orte sehen wird: in einer Varietéshow. Der Junge spielt mit den Kleinwüchsigen auch ohne Sprache, ohne verbalen Dialog. Er kann noch kommunizieren. Er ist noch nicht von der Menschenfeindlichkeit von Mutter und Tante verdorben.

Der Junge ist klein und Männer kommen im Film im Prinzip nicht vor, abgesehen vom Sexpartner Annas und einem alten Hotelangestellten, sowie der Vater der Schwestern laut einem Gespräch tot ist. Die Absicht Bergmans ist evident: Er konzentriert sich auf zwei erwachsene Frauen, die einander hassen, was für den Menschenhass im Allgemeinen steht. Zwei Männer hätten auch die Hauptrollen übernehmen können, sagt der Regisseur. Aber wenn es Männer gewesen wären, hätte der Film eine andere Wirkung erzielt: Das "starke" Geschlecht, zu Zeiten des Films in den 1960er-Jahren noch "stärker", dominanter als Frauen, steht eher für Kriege, für Hass. Wenn schon Frauen hassen, ist in den Gedanken des Filmemachers die Welt zugrundegerichtet. Der Protestant Bergman arbeitet sich ab an der Kontaktlosigkeit unter den Menschen, arbeitet sich gleichzeitig ab am verlorenen Glauben der Menschen. Gottvater ist tot, der Eine, der die Menschen eint, der die Mitmenschlichkeit, die Nächstenliebe einfordert. Bergman zeigt sich hier, mit diesem Film, erstmals als Agnostiker, für ihn schweigt auch Gott, selbst wenn der Autorenfilmer dem Kind noch die Fähigkeit zum Dialog zuspricht. Mit dem Film wollte Bergman nach eigener Aussage "beeinflussen, in Kontakt zu kommen, einen Keil in die Gleichgültigkeit und Passivität der Menschen zu treiben." Dazu stellt er sehr gut die Beziehungskälte heraus.

Dennoch ist der Film "klein", ein Klassiker eher deswegen, weil er provozierte. Der Film war ein Publikumserfolg – elf Millionen Zuschauer sahen "Das Schweigen" allein in deutschen Kinos – wohl in erster Linie wegen einer Masturbationsszene und gezeigten nackten Frauenbrüsten (1963!), nicht wegen ihm nicht abzusprechenden ästhetischen Qualitäten. Er mogelte sich an der Zensur vorbei trotz Skandalträchtigkeit, bekam in Deutschland das Prädikat "besonders wertvoll", ist aber zu monoton in der Vermittlung der menschlichen Kälte.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * (3 von 5)



Filmdaten

Das Schweigen
(Tystnaden)

Schweden 1963
Regie & Drehbuch: Ingmar Bergman;
Darsteller: Ingrid Thulin (Ester), Gunnel Lindblom (Anna), Jörgen Lindström (Johan), Hakan Jahnberg (der alte Kellner), Birger Malmsten (der junge Kellner) u.a.;
Produzent: Allan Ekelund; Kamera: Sven Nykvist; Musik: Ivan Renliden; Schnitt: Ulla Ryghe;

Länge: 96 Minuten; FSK: ab 18 Jahren (1963/1964); westdeutscher Kinostart: 24. Januar 1964



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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