05.04.2016
Café Nagler
Die Großmutter von Regisseurin Mor Kaplansky war früher selbst Dokumentarfilmerin für das israelische Fernsehen. Doch die Geschichte, an die sie sich als alte Frau am liebsten erinnert, hat sie nie gedreht. Es ist die Geschichte des Titelorts, den ihre Eltern einst am Berliner Moritzplatz führten. Bevor das glanzvolle Kapitel der Familienhistorie völlig verblasst, sucht ihre Enkeltochter in Berlin nach den Spuren eines Ortes, den es so vielleicht nur in der Fantasie der Großmutter gab.
Mit den alten Anekdoten kramt die 86-Jährige die alten Teller wieder heraus. Auf ihnen steht von Schnörkeln umrahmt der Name des Cafés Nagler. So elegant wie auf dem Geschirr ist der Betrieb in der Gedankenwelt der alten Dame eingeprägt. Es war der Treffpunkt der Hautevolee und Bohemiens, erzählt sie. Einstein, Kafka, George Grosz und Alfred Döblin tranken dort morgens Kaffee und abends Likör. Die Geschichte des Swing beginnt im Café Nagler, wo sich auf drei opulent ausgestatteten Etagen Künstler, Politiker und die Demi Monde amüsierten. Dabei wurde die Großmutter erst nach der Ära des Cafés geboren. Ihre Geschichten sind die ihrer Eltern, noch grandioser ausgeschmückt. Die Eltern Rosa und Ignatz Nagel hatten angeblich den größten Berliner Cafébetrieb jüdischer Eigentümer, bevor sie nach Israel gingen. Kaplansky reist, mit der Handkamera und alten Postkarten vom Café ausgerüstet, nach Berlin. Ihr Regiedebüt soll endlich der persönliche Dokumentarfilm über die Familienwurzeln werden, den ihre Großmutter damals während ihrer Filmlaufbahn nie drehte. Aber warum eigentlich nicht? Die eigene Verbindung zu einem so berühmten Ort hervorzuheben, hätte arrogant gewirkt, antwortet die Großmutter. Je länger Kaplansky in Berlin nachforscht, umso mehr drängen sich andere Gründe für die Zurückhaltung ihrer Großmutter auf. Sowohl das Haus, als auch die ehemalige Wohnung der Naglers wurden im Krieg zerstört. Einen Eindruck, wie es gewesen sein könnte, sollen Stummfilm-Szenen aus dem alten Berlin geben. Auf Klischeebildern der Zwanziger fließt der Champagner, das Tanzbein wird geschwungen und im Hintergrund blitzen Spiegelwände und Lüster. Doch keine der Szenen spielt im Café Nagler, von dem kein Historiker je gehört hat. Die befragten Stadtkenner weisen stattdessen auf die Unstimmigkeiten in Kaplanskys Anhaltspunkten hin. Swing wurde Mitte der 30er erfunden. Ein angeblicher Zeitzeuge entpuppt sich als Aufschneider, der zu jung ist, um sich an das Café zu erinnern. Ein Café Nagler gab es wohl, doch das war eher eine beliebige Kaffeestube weit ab vom Ku'damm, wo das Nachtleben tobte. Für das meiste, was der Film erst vor Ort entdeckt, hätten eine Google-Suche und ein paar Telefonate genügt. Aber wäre Großmutter damit glücklich gewesen? Kaplansky macht sich das Filmprojekt zur Herzenssache und strickt aus erfundenen Histörchen ein fiktives Memoire des Titelorts. So charmant, wie es klingt, ist das nicht anzusehen. So bedeutungslos, wie das reale Café Nagler wohl war, wirkt die Handlung der Dokumentation. Darin sagt ein Musikhistoriker einmal: "Ich kann mir viele hübsche Geschichten ausdenken und viele Märchen, aber ich möchte keine Lügen erzählen." Kaplansky hätte es vermutlich besser ebenso gehalten. Lida Bach /
Wertung: * *
(2 von 5)
Quelle der Fotos: Edition Salzgeber Filmdaten Café Nagler (Café Nagler) Israel/Deutschland 2015 Regie & Drehbuch: Mor Kaplansky; Co-Regie & Kamera: Yariv Barel; Produzenten: Liran Atzmor, Yariv Barel, Mor Kaplansky; Musik: Eran Weitz; Schnitt: Idit Alony, Arik Lahav Leibovitz; Länge: 58,46 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; deutscher Kinostart: 9. Juni 2016
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