03.09.2011
Kein Thriller, kein Beziehungsfilm, keine Medienkritik - und doch von allem etwas

Caché


Der österreichische Regisseur und Drehbuchautor Michael Haneke will die Zuschauer wachrütteln. Zu diesem Zwecke verstört er sie. Doch ist der verstörte Zuschauer nach einem Haneke-Film wachgerüttelt, oder im Schockzustand? Wird es allmählich zu einer Mutprobe, sich einen Haneke-Film anzusehen? Wer "Funny Games", "Wolfzeit", "Code – unbekannt", "Die Klavierspielerin" oder "Das weiße Band" kennt, kriegt auch bei "Caché" einprägsame, symbolträchtige, aber auch gnadenlose Bilder – und auf jeden Fall einen Einschnitt in die trügerische Sicherheit des Alltags.

Schon zu Anfang sieht man lange Einstellungen, die der Zuschauer in der neuen Medien- und Kinokultur der schnell aufeinanderfolgenden Bilder inzwischen nicht mehr gewöhnt ist. Ein Hauseingang wird gefilmt. Bald stellt sich das Mulmige ein: Irgendetwas stimmt nicht. Die Beobachteten Georges und Anne erhalten die zweistündige Video-Aufzeichnung ihres Hauseingangs. Wo ist die Kamera? Wer beobachtet uns? Sind wir bedroht? Wenn ja, von wem? Und warum? Es folgen weitere Videobänder, eingewickelt in kindlich-naiv anmutende Zeichnungen eines Blut spuckenden Menschen, eines geköpften Hahns. Der Zuschauer erfährt irgendwann mehr als die Beteiligten: z.B. Georges' Traum von einem Blut spuckenden Jungen arabischer Herkunft. Schon hier geht Hanekes Arbeit am Zuschauer los: mit dem Nicht-Zeigen von Fakten, nur kurz angedeuteten Traumsequenzen und halb beantworteten Fragen. Der Zuschauer ist jetzt in Georges' Kopf, wo er bis zum Ende des Films bleibt – aber dennoch weniger weiß als er. Man darf versuchen, Unbekanntes mithilfe der eigenen Erkenntniswelt erfahrbar zu machen, aber so richtig gelingen kann das nicht.

Das verborgen Gefilmte wird immer bedrohlicher, je mehr man darüber erfährt. Nur nach und nach werden Kindheitserinnerungen unscharf rekonstruiert – eine schicksalhaft-folgenschwere Auseinandersetzung zwischen den Kindern Georges und dem Adoptivbruder Majid, die möglicherweise Motiv der bedrohlich wirkenden Videobotschaften sind. Aber niemand weiß, wo die Kamera jeweils ist und wer sie bedient. Und darum geht es im Grunde auch nicht.

Georges' nicht mitgeteilter Wissensvorsprung führt zu strittigen Grundsatzfragen über Vertrauen und Miteinander in der Ehe. Seine aggressive Haltung, seine Lügen, das Zurückweisen von Mitverantwortung, das Verdrängen lässt Menschlichkeit vermissen.

Was macht das Umfeld? Die Polizei verwehrt ihre Unterstützung, weil keine Bedrohung erkannt wird. Die Freunde der Familie werden eingeweiht, bleiben jedoch unbeteiligt. Georges' Mutter lässt Fragen über die Vergangenheit unbeantwortet. Der Sohn Pierrot führt sein eigenes Leben und ist minimalistisch in der Kommunikation mit den nicht sehr um den Jungen bemühten Eltern.

Der erschreckende Höhepunkt – oder eher Tiefpunkt – des Films ist ein blutreicher von Georges mit zu verantwortender Selbstmord. Doch selbst dieser rüttelt Georges nicht wach – im Gegenteil, er nimmt Schlaftabletten und legt sich ins Bett. Das Verdrängte wandert in den bereits vollen Leichenkeller.

Darstellerisch ist die Rolle auf Daniel Auteuil wie ein Gewand zugeschnitten. Die Ehefrau Anne, hervorragend gespielt von einer Juliette Binoche ohne schöngeschminktes Hollywood-Gesicht, sowie Leinwand-Legende Annie Girardot, dann Maurice Bénichou (Majid), bekannt auch aus einer kleinen feinen Nebenrolle in "Chocolat" – alle Darsteller stehen zusammen wie eine Eins, das ist höchstgelungenes Handwerk.

Haneke scheint zu fragen: Was ist denn Wahrheit? Oder besser: Wessen Wahrheit ist wahr? Gibt es eine objektive Realität? Akira Kurosawa fragte sich das bereits 1950 in "Rashomon", dessen Botschaft – wie auch in "Caché" – ebenso verstörend lautet: Der objektive Fakt lässt sich nicht (re)konstruieren, wenn alle am Geschehen Beteiligten eine eigene Version vortragen.

Haneke stellt auch die Frage der Schuld und Mitschuld von Polizei und Medien: Kurz thematisiert wird das totgeschwiegene Massaker von Paris 1961, in dem bis zu 200 Algerier von der Polizei getötet und in die Seine geworfen wurden. Er stellt die Frage des (verweigerten) Mitgefühls, der Kraft der Verdrängung und des letztendlich nicht in seinem vollen Maße gelebten und deswegen verschlafenen, verschwendeten Lebens. Beantworten soll all diese Fragen aber der Zuschauer.  

Hilde Ottschofski / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

 

 
Filmdaten 
 
Caché (Caché) 
 
Frankreich / Österreich / Deutschland / Italien 2005
Regie & Drehbuch: Michael Haneke;
Darsteller: Juliette Binoche (Anne Laurent), Daniel Auteuil (Georges Laurent), Annie Girardot (Georges' Mutter), Maurice Bénichou (Majid), Lester Makedonsky (Pierrot Laurent), Bernard Le Coq (Chefredakteur), Walid Afkir (Majids Sohn), Daniel Duval (Pierre), Nathalie Richard (Mathilde), Denis Podalydès (Yvon), Aissa Maiga (Chantal), Louis-Do de Lencquesaing u.a.;
Produktion: Les Films du Losange, Wega Film, Bavaria Film, BIM Distribuzione; Eine Koproduktion von Arte France Cinema, France 3 Cinema, ORF Film/Fernseh-Abkommen, arte/WDR; Produzenten: Margaret Ménégoz, Veit Heiduschka; Co-Produzenten: Valerio de Paolis, Michael Weber; Ausführende Produzenten: Margaret Ménégoz, Michael Katz; Kamera: Christian Berger;

Länge: 119 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Prokino Filmverleih GmbH; deutscher Kinostart: 26. Januar 2006

Europäischer Filmpreis 2005
Bester Film - Beste Regie - Bester Darsteller - Bester Schnitt
Prix FIPRESCI



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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