24.03.2018

17 Mädchen

Während einer routinemäßigen Schuluntersuchung erfährt die 16-jährige Camille (Louise Grinberg), dass sie ungewollt schwanger ist. Bald sieht die Heranwachsende in ihren Umständen die Chance auf ein neues, erfüllteres Leben, wobei vor allem der alterstypische Wunsch nach einer Abgrenzung von den Eltern und der Drang nach Selbstbestimmung zu einer positiven Bewertung der Schwangerschaft führen. Als mit der Außenseiterin Florence (Roxane Duran) ein weiteres Mädchen der Schule ein Kind erwartet, schließt die Mädchenclique um Camille einen Pakt: Sie alle wollen kollektiv schwanger werden, um die Kinder in der Gemeinschaft großzuziehen. Den Plan setzen die Mädchen bei der nächsten Party prompt in die Tat um und stoßen damit die durch Eltern und Lehrerschaft verkörperte Erwachsenenwelt gehörig vor den Kopf. Ihren eigenen Körper, über den sie selbstbestimmt verfügen möchten, nutzen die Mädchen gewissermaßen als Vehikel ihres rebellischen Protests.

In der Tat beruht "17 Mädchen" von Delphine und Muriel Coulin auf einer wahren Begebenheit in den USA, die der Film in die französische Hafenstadt Lorient verlegt. Ohne die Handlungsweise der Mädchen moralisch zu bewerten, suchen die Coulins nach den Motiven der Protagonistinnen und stellen diese in Gesprächen innerhalb der Clique heraus. In ihrer gruppendynamischen Euphorie imaginieren die Mädchen ein Kind als einen Menschen, der sie das ganze Leben lang bedingungslos liebt und stellen sich das Leben mit Kind doppelt erfüllend vor: Mit Schule und Baby lebe man zu zweihundert Prozent, erklärt Camille, die durchgängig die Anführerin der Gruppe und die Trägerin des Traums bleibt. Hinzu kommt der Wunsch, nicht mehr als Kind wahrgenommen zu werden und mit dem elterlichen Regelwerk zu brechen – der hier ausschlaggebende Generationenkonflikt bleibt in der Vorstellung der Mädchen bei ihren Kindern aus, weil diese wegen des geringen Altersunterschieds in einem eher geschwisterlichen Verhältnis mit den jungen Müttern stehen.

Mit der emanzipierten Utopie einer Art Hippie-Kommune, in der die Kinder aufwachsen sollen, verbindet sich die Vorstellung einer Gruppenzugehörigkeit durch die Schwangerschaft. So täuscht Florence ihre Schwangerschaft mit einem künstlichen Bauch lediglich vor und überwindet mit dieser Finte ihren Status als Außenseiterin; lediglich Mathilde (Solène Rigot) widersetzt sich dem sozialen Druck und erwägt bis zuletzt keine Schwangerschaft. In ihrer tristen Darstellung der Hafenstadt Lorient, in der neben dem Strand allenfalls ein Kino und ein Fast-Food-Restaurant als soziale Orte fungieren, rücken die Regisseurinnen ein weiteres Motiv der Mädchen ins Blickfeld: Letztlich wollen Camille und ihre Freundinnen auch der Langeweile entfliehen, die ihr Leben bestimmt. Trotz der vielen im Film angebrachten Erklärungen bleibt das Publikum – ganz so wie die erwachsenen Nebenfiguren – mit der drängenden Frage nach dem Warum schlussendlich alleine. Auf diese Weise regt "17 Mädchen" zum Nachdenken über die von Selbstfindung und Abgrenzung bestimmte Phase des Erwachsenwerdens an.

Die Welt der Erwachsenen spielt in "17 Mädchen" eine ebenso untergeordnete Rolle wie jene der Kindesväter, die allenfalls am Rande vorkommen. Den perplexen Eltern und der besorgten Schulleitung, die sich das Verhalten der Mädchen nicht erklären können, fällt kaum mehr als die Vorführung eines Aufklärungsfilms, das Aufstellen eines Kondomautomaten oder die Erteilung von Hausarrest ein. Besonders die von der körperlichen Entwicklung her kaum für eine Schwangerschaft vorbereitete Clémentine (Yara Pilartz) gerät mit ihren Eltern in Streit, flüchtet schließlich von zu Hause und findet Halt in der Gruppe – Clémentine ist es auch, die mit der Schwangerschaft am ehesten überfordert ist. Programmatisch für die Entfremdung zwischen Kindern und Eltern steht die erste Szene mit Camille und ihrer Mutter, in der die Mutter sinnbildlich einige Zeit in der Unschärfe des Hintergrunds verweilt.

Delphine und Muriel Coulin, die mit "17 Mädchen" ihr Spielfilmdebüt liefern, inszenieren die unerhörte Begebenheit an der französischen Schule auf ruhige Weise und mit klaren, sorgsam komponierten Bildern in Pastelltönen. Die Aufmerksamkeit gilt den Befindlichkeiten der Mädchen, wobei vor allem die Diskrepanz zwischen der schwärmerischen Bejahung des Plans in der Gruppe und der Nachdenklichkeit der Mädchen, wenn sie alleine sind, auffällig ist: Immer wieder zeigt "17 Mädchen" die Protagonistinnen, wie sie alleine in ihren Kinderzimmer auf dem Bett liegen und über ihre Lage grübeln. Gerade bei diesen Gewissenskonflikten und generell bei der etwas leichtfüßigen Darstellung der Schwangerschaften lassen die Regisseurinnen dramatisches Potential ungenutzt, was schließlich in einer ungelenken Schlusswendung kulminiert. Dennoch ist "17 Mädchen" ein durchaus sehenswertes Jugenddrama, das – unterhaltsam und ambitioniert gleichermaßen – weit über den Abspann hinauswirkt.



Diese Filmkritik ist zuerst erschienen bei fluter.de.

 

Christian Horn / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

17 Mädchen
(17 filles)

Frankreich 2011
Regie & Drehbuch: Delphine Coulin, Muriel Coulin;
Darsteller: Louise Grinberg (Camille), Juliette Darche (Julia), Roxane Duran (Florence), Esther Garrel (Flavie), Yara Pilartz (Clémentine), Solène Rigot (Mathilde), Florence Thomassin (Camilles Mutter), Frédéric Noaille (Florian), Arthur Verret (Tom), Philippine Raude Toulliou (Philippine), Carlo Brandt, Noémie Lvovsky u.a.;
Produzent: Denis Freyd; Kamera: Jean-Louis Vialard; Schnitt: Guy Lecorne;

Länge: 90,07 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 14. Juni 2012



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe