November 2000

Das große Fressen

"Erst kommt das Fressen, dann folgt die Moral", sagte einmal Bertolt Brecht.
Der italienische Regisseur Marco Ferreri hat Jahre später dieser These nur zur Hälfte zugestimmt: Im Nachklang der sexuellen Revolution, die ein neues hemmungsloses Selbstbestimmungsgefühl in die Gesellschaft trug, formulierte er 1973 in cinematographischer Form vielmehr ein "Sie werden alle an ihrem Vergnügen noch ersticken". Es lässt sich eine schwere Kritik am Hedonismus seiner Zeit dahinter vermuten, dass Ferreri von vier Freunden erzählt, die gemeinsam den Freitod durch vornehmlich orale Genussaufnahme wählen - Fressgier und Sextrieb gehen dabei ineinander über.

Was die vier gereiften Herren Marcello, Ugo, Michel und Philippe dazu überhaupt veranlasst, den Rückzug von der Welt mittels einer letzten orgiastischen Befriedigung anzutreten, wird dem Zuschauer nur angedeutet gezeigt: Der Jurist Philippe, der dem finalen gastronomischen Akt sein Landhaus zur Verfügung stellt, begeistert sich nicht erfolglos für barocke weibliche Körperformen. Flugkapitän Marcellos Glück bei jungen Frauen findet kein Ende. Weitgehend widerstandslos fliegen sie dem Latin Lover nach - und tragen ihm die Koffer vor. Dabei gibt es in seinem Leben eine weitere erotische Obsession, auf die er noch hemmungsloser abfährt als auf Frauen.

Fernsehproduzent Michels Vorliebe für eigene Ballettübungen lässt ebenfalls nicht auf Lebensunlust schließen - aber auf eine etwas zu implizit formulierte Bisexualität, zweifelsohne als Symbol für die oben erwähnte neuverabsolutierte sexuelle Freiheit, gleichfalls als Metapher für Narzissmus zu verstehen. Die Charakterisierung des vierten im Bunde, Ugo, fällt mäßig aus, vielleicht der größte Schwachpunkt des Films: Von ihm und seiner Psyche erfährt der Zuschauer recht wenig - von seinem Vermögen für eine sehenswerte Don Vito Corleone-Imitation einmal abgesehen. Aber auch bei ihm fungiert seine exzessive Dimensionen annehmende Leidenschaft fürs Kochen metaphorisch als augenscheinlicher Genuss des Lebens.

Was treibt die Freunde und die zwischenzeitlich zu dem Männerquartett stoßende Lehrerin Andrea trotz ihrer potentiellen Lebensfreude zum gemeinsamen Exitus? Allen ist die offensichtliche Langeweile im Beruf gemein. Aber auch das Ausleben ihrer jeweiligen sexuellen Phantasien bietet ihnen offensichtlich keine neue Nuance mehr: Der Überdruss an Überfluss führt zur Lösung des Janis Joplinschen "Live fast - die young"-Prinzips, von ihnen nur in einem Punkt formal abgewandelt: Das legale Genussmittel Essen anstelle illegaler harter Drogen steht hier stellvertretend für die Freiheit, sich selbst den Termin fürs eigene Ende zu setzen.

Zu "Das große Fressen" mag Marco Ferreri die Darstellung bodenloser Ausuferung der Gelüste der Protagonisten trotz ihres bevorstehenden Todes gereizt haben. Er entwickelt die 125 ihm zur Verfügung stehenden Minuten konstruktiv zu einer sozialpsychologischen Studie über Menschen, deren Glücksgefühl sich durch ihre zu perfekte Saturiertheit nicht mehr neu entfalten kann: Philippes immerfort währende Melancholie spricht Bände. Nicht umsonst wird sie im Verbund mit seiner Begierde nach matronenhaften Frauen als schauderhaft dargestellt.

Ferreris ohnehin latent vorhandener Hang zum Ekeln des Zuschauers im Zusammenhang mit der Hedonismus-Kritik erhält seine verschärfteste Abstufung im Platzen der Toilettenanlage des Anwesens: Hier kommen nur vordergründig lediglich Exkremente zum Vorschein. Der Subtext ist hier die Angabe der Konsequenz des Vergnügens im Übermaß, es sprudelt alles hervor, was sich an negativen Seiten der Genusssucht nur mühsam negieren ließ. Nicht umsonst vielleicht findet sich "Übersättigung" im Synonymwörterbuch als Alternative zu "Abscheu". Ferreris Neigung fürs indiskrete, unverhohlene Zeigen von Fäkalien fand in Pier Paolo Pasolinis "Salò - Die 120 Tage von Sodom" (1975) eine Entsprechung: Auch bei Pasolini ufert Hedonismus in sadomasochistischen Exzessen aus.

Von Ferreris Film bleibt vor allem die Erinnerung an grandios durchdachte Bildaufbauten: Jede einzelne Kameraeinstellung darf ohne Ausnahme als eigenständige Delikatesse angesehen werden und einen 4-Sterne-Eintrag im Michelin-Führer für sich verbuchen.

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5)


Filmdaten
Das große Fressen (La grande bouffe / La grande abbuffata)

Regie: Marco Ferreri; Buch: Rafael Azcona, Francis Blanche; Kamera: Mario Vulpiani; Schnitt: Claudine Merlin, Gina Pignier; Musik: Philippe Sarde; Darsteller: Marcello Mastroianni (Marcello); Michel Piccoli (Michel); Philippe Noiret (Philippe); Ugo Tognazzi (Ugo); Andréa Ferréol (Andrea); Solange Blondeau (Danielle); Florence Giorgetti (Anne); Michèle Alexandre (Nicole); Monique Chaumette (Madeleine); Henri Piccoli (Hector); Louis Navarre (Braguti); Bernard Ménez (Pierre); Cordelia Piccoli (Barbara) u.a.

Frankreich/Italien 1973, 125 Minuten, FSK: nicht unter 18.

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