Großaufnahme
eines Auges, unterlegt mit dumpfen unheilverkündenden Trommelschlägen.
Es erinnert an den fünf Jahre älteren "Psycho",
in dem Hitchcock nach dem berühmten Duschenmord die Kamera
auf das tote Auge des Opfers richtet und davon ausgehend langsam
das Gesicht der Toten und dann den Tatort zeigt.
Das
unruhig umhersuchende Auge in "Ekel" gehört zu einer
jungen Frau, Carol, die gezeigt wird, wie sie auf der Arbeit vor
sich hin träumt. Sie wird von Anfang an als jemand dargestellt,
der nicht ganz da ist, abwesend, so als sei sie nicht in der Wirklichkeit
angekommen. Sehr überzeugend und eindrucksvoll wird diese Hauptfigur
von Catherine Deneuve gespielt, die mit dieser Rolle international
bekannt wurde. Nur durch wenige Gesten wird ein rundes, komplexes
Bild von einem gestörten Charakter entworfen, der sich zum
Ende des Films gar nicht mehr in der Realität zurechtfinden
kann.
Zuerst erleben wir Carol bei ihrer Tätigkeit als Maniküre
- noch funktioniert sie, auch wenn sich ihre Arbeitskolleginnen
manchmal über ihre Art wundern. Auch Carols Schwester Hélène,
bei der sie lebt, weiß um ihre Eigenarten, aber macht sich
nicht weiter ernsthafte Sorgen um sie. Sie ist ein ganz anderer
Typ als Carol: lebensfroh, unbekümmert, bestimmt, selbstbewußt.
Sie weiß um ihre Attraktivität, und sie hat einen Geliebten.
Dieser macht sich so seine Gedanken über Carol, nennt sie
"Dornröschen" und "ein bißchen überdreht".
Als er seiner Geliebten sagt, daß Carol "mal zum Arzt
gehen sollte" reagiert sie empfindlich darauf, doch sie sprechen
nicht weiter davon. Hélène tut es damit ab, daß
ihre Schwester eben eine "Mimose" sei. Mit dieser Feststellung
liegt sie nicht ganz falsch: Carol ist empfindsam und weicht Berührungen
aus; sie zuckt zusammen, wenn ihr jemand zu nahe kommt. Doch ihre
Probleme gehen noch viel tiefer.
Sie zieht sich immer weiter zurück, gerät zunehmend
in die Isolation. Sie ist nicht an Männerbekanntschaften
interessiert, noch scheint sie überhaupt Interesse an irgend
etwas zu haben. Mit ihrer abweisenden Art stößt sie
einen Verehrer vor den Kopf, der nicht verstehen kann, was mit
ihr los ist. Seine Annäherungsversuche beängstigen sie.
Mit sich allein weiß Carol auch nichts anzufangen, im Bett
liegend starrt sie an die Zimmerdecke oder sieht zum Fenster hinaus
auf das gegenüberliegende Kloster. Die Wohnung ist für
sie gleichzeitig Zuflucht und Gefängnis. Dort wägt sie
sich sicher vor der feindlichen Außenwelt, doch der Geliebte
ihrer Schwester dringt als störendes Element in ihre kleine
Welt ein. Sie ekelt sich vor seiner Zahnbürste in ihrem Glas,
fühlt sich allein gelassen, wenn Hélène mit
ihm ausgeht und kann es nicht ertragen zuhören zu müssen,
wenn die beiden nebenan Sex haben.
Die Situation eskaliert, als das Liebespaar für ein bis
zwei Wochen verreist und Carol allein auskommen muß. Sie
leidet zunehmend unter Angstzuständen und Halluzinationen.
Irgendwann geht sie nicht mehr zur Arbeit.
In der verdunkelten Wohnung dämmert sie vor sich hin. Ihr
Verehrer Colin bricht besorgt die Wohnungstür auf, als er
nichts von ihr hört. Sie fühlt sich durch ihn bedroht
und erschlägt ihn. Bevor ihre Schwester zurückkehrt
und sie wie paralysiert auffindet, begeht Carol noch einen Mord
an dem zudringlich werdenden Vermieter.
Übrig bleibt die Frage nach dem "warum". Polanski
gibt uns dreimal den Verweis auf die Vorgeschichte, indem er uns
ein altes Familienfoto aus Carols Kindheit zeigt. Auch dort hat
sie den abwesenden Blick. Doch Erklärungen bekommen wir nicht.
Daß viele Interpretationsmöglichkeiten offen gehalten
werden, ist auch eine der Stärken des Films. Eine Interpretation
wäre, daß Carol eine gewisse Veranlagung hat, die durch
eine gefilterte Wahrnehmung der Umgebung verstärkt wird.
Wir als Zuschauer sehen, wie sich Colin sehr geduldig um Carol
bemüht, doch sie fühlt sich nur von ihm bedrängt
und mißtraut ihm - zuvor hatte sie ja noch von ihrer Arbeitskollegin
gehört wie "gemein" Männer seien. Eine andere
Möglichkeit wäre, daß sie in ihrer Kindheit ein
Trauma erlebt hat, z.B. sexuell mißbraucht wurde. Dies könnte
ihr gestörtes Verhältnis zu Männern und zu allem
Körperlichen erklären.
"Ekel" ist wie eine psychologische Studie, die Kamera
zeigt unbarmherzig jede Regung in Carols Gesicht und informiert
uns jederzeit über ihren fortschreitenden seelischen Verfall.
Interessant ist, wieviel Sympathie Polanski mit seiner Hauptfigur
hat: Sie ist nicht einfach eine "männermordene Irre",
sondern mehr ein tragischer Charakter wie etwa eine der zerbrechlichen
Heldinnen bei Tennessee Williams. Deneuve spielt Carol sehr in
sich gekehrt, still und wie erstarrt, aber auch mit einer nervösen
Motorik, wenn sie versucht etwas für uns Unsichtbares wegzuwischen.
Sie hält mitten in Bewegungen inne und ist nicht ansprechbar.
In der deutschen Synchronisation wurde ihr starker französischer
Akzent übernommen, die Stimme klingt träge, manchmal
weinerlich. Oft wirkt sie wie ein kleines Kind, unschuldig, unwissend
und emotional von der Schwester abhängig, allein nicht überlebensfähig.
Ihre Wahnvorstellungen erlebt der Zuschauer aus Carols Sicht,
als geschähen sie in echt. Es ist nicht immer eindeutig zu
unterscheiden, was Carol nur glaubt zu sehen oder was wirklich
passiert. Auf einmal sind Männer in ihrem Zimmer, Räume
verändern sich, Wände reißen auf und beginnen
ein Eigenleben zu entwickeln.
Schockmomente sind perfekt inszeniert und werden sorgfältig
vorbereitet.
Vorherrschend sind lange Kameraeinstellungen und Großaufnahmen
der Gesichter.
Die Atmosphäre ist bedrückend und beklemmend: Carol
ist von Tod und Verwesung in Form eines toten Kaninchens und der
Leichen umgeben. Es gibt lange Momente der absoluten Stille ähnlich
wie bei Bergman,
und ab der zweiten Hälfte des Films spricht Carol fast kein
Wort mehr.
Musik wird im Film bewußt sparsam und um so effektiver eingesetzt:
Im Moment emotionaler Erregung setzt plötzlich laute Jazzmusik
und Trommelwirbel ein.
"Ekel" war Roman Polanskis zweiter Film im Ausland
und ein großer künstlerischer Erfolg. Polanski entwickelte
in diesem Werk Ideen, die er über 10 Jahre später in
seinem lange unterschätzten Film
"Der Mieter" wieder aufgriff. Thema und Stil dieser
Filme gelten als typisch für Polanski, obwohl er auch erfolgreich
und gelungen Komödien bzw. Tragikkomödien drehte - wie
z.B. sein Klassiker "Tanz der Vampire" (1967) oder auch
der weniger bekannte "Wenn Katelbach kommt" (1966).
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Der Film endet wie er begann mit der Großaufnahme eines
Auges, so schließt sich der Kreis.